nd-aktuell.de / 25.01.2014 / Kommentare / Seite 22

Ein Spiel mit dem Feuer

Die mehrdimensionale Dialektik der ukrainischen Konfrontation

Alexandr Buzgalin

Zum zweiten Mal innerhalb eines Jahrzehnts erlebt Kiew Massenproteste und Zusammenstöße mit der Staatsmacht. Doch die derzeitigen Ereignisse ähneln nur äußerlich denen von 2004. Die Situation ist viel komplizierter.

Hauptakteur des Maidan waren vor zehn Jahren Menschen, die der Unverfrorenheit und Willkür der in Wirtschaft und Politik herrschenden »Eliten« überdrüssig geworden waren. Nationalistische Gruppen und Agenten einflussreicher Kräfte waren 2004 vielleicht nicht weniger stark als heute, aber maßgebend war damals das Aufbegehren des Volkes. Die Konfrontation war zwar ebenfalls von geopolitischen Interessen bestimmt (soll sich die Ukraine an Europa oder Russland anlehnen?), aber auch gesellschaftspolitisch, durch die Kluft zwischen Volk und den selbstherrlich Regierenden.

Ganz anders heute. Die allgemeine Unzufriedenheit mit Korruption, Vettern- und Misswirtschaft empört zwar nach wie vor. Doch in den Vordergrund drängten sich nun geschickt agierende prowestliche »Eliten« aus Politik und Wirtschaft. So offen wie jetzt haben sie sich 2004 noch nicht auf die Bühne gewagt. Beunruhigend ist vor allem die stärkere Präsenz nationalistischer und profaschistischer Organisationen.

Die Konfrontation ist mehrdimensional geworden. Die das Land zerreißenden Widersprüche darf man nicht nur von dem heute in Mode gekommenen geopolitischen Standpunkt aus betrachten, sondern muss sie auch durch das Prisma der sozial-ökonomischen und politisch-ideologischen sowie der kulturell-historischen Konflikte zu verstehen versuchen. Es kreuzen sich Widersprüche, die nicht nur die Ukraine betreffen.

Die Ukraine - das sind die Arbeiter der Eisenhüttenindustrie und eine starke Beamtenschaft, das sind Lehrer und Bauern, die Besitzer von Dienstleistungsunternehmen und Oligarchen, wobei letztere wiederum in unterschiedliche »Clans« unterteilt sind. In der Ukraine gibt es prowestliche, prorussische und »unabhängige« Gewerkschaften und gesellschaftliche Organisationen sowie mehrheitlich pragmatisch-zynische Parlamentsparteien, die die Frage einer Integration des Landes in die Europäische Union vorwiegend aus dem Blickwinkel größtmöglicher Wahlerfolge beurteilen.

Die Bevölkerung der Ukraine spricht in ihrer Mehrheit sowohl ukrainisch als auch russisch. Zur Geschichte des Landes gehörten Kriege und Zusammenschlüsse mit Polen und Litauen. Die Ukraine litt über Jahrhunderte unter der Unterdrückung und Ausplünderung durch das russische Zarenreich und war über sieben Jahrzehnte mit Russland in der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verbunden. Die Ukrainer können stolz auf das Heldentum ihrer Partisanen im Kampf gegen die deutsch-faschistischen Aggressoren zurückblicken; ein dunkles Kapitel bildet die Kollaboration von Banden mit den Naziokkupanten. Es kreuzen sich also derzeit auf dem Maidan prinzipielle, historisch-kulturelle, sozial-klassenmäßige, politisch-ideologische, pragmatisch-ökonomische und geopolitische Widersprüche.

Was aber ist für die Ukraine besser? Sollte sie Mitglied der Europäischen Union werden? Oder die Partnerschaft mit Russland suchen? Oder sich als ein unabhängiges Land der Dritten Welt zu behaupten versuchen? Diese Frage müssen natürlich die Bürger der Ukraine selbst entscheiden. Druck durch Emissäre der EU und der USA ist hier ebenso unzulässig wie durch Russland. Offenkundig ist, dass die verschiedenen Schichten der ukrainischen Gesellschaft an unterschiedlichen Lösungen interessiert sind. Ich erhebe natürlich keinen Anspruch auf die Wahrheit höchster Instanz, doch als Wissenschaftler und Bürger kann ich nicht die Position eines neutralen Beobachters einnehmen.

Für den Großteil des Industrieproletariats und der Bauernschaft der Ostukraine brächte eine Zusammenarbeit mit Russland (wohlgemerkt nicht Integration oder Anschluss der Ukraine an Russland) ungeachtet aller offensichtlichen negativen Facetten des russischen Unternehmertums und der russischen Bürokratie eine größere Stabilität. Es gäbe auch keine kulturellen und sprachlichen Barrieren, wie sie sich bei einer Integration in die EU auftun würden. Von Vorteil wäre eine Anlehnung an Russland für Vertreter intellektueller Berufe (vom Lehrer bis hin zum medizinischen Personal). Anstelle der gegenwärtigen paternalistischen »Bevormundung« und sozialen und rechtlichen Beschränkungen durch die ukrainische Bürokratie würden sie freier arbeiten können (vorausgesetzt, der eine Paternalismus wird nicht durch einen anderen ersetzt).

Eine Annäherung an Russland wäre auch für bestimmte Großunternehmer sowie für die mit ihnen verwobenen politischen und bürokratischen Schichten ein Gewinn. All diese »positiven Seiten« sind gewiss äußerst ambivalent. Doch eine mögliche Annäherung unserer Länder brächte einen unzweifelhaften Vorteil, und zwar durch das Wiedererstehen und eine Intensivierung unseres sozio-kulturellen Dialogs. Dieser Parameter ist prinzipiell bedeutsam und eindeutig positiv.

Für den größeren Teil von Freiberuflern, Angehörigen des Kleinbürgertums und der mittleren Bourgeoisie, der Zwischenhändler und der Oligarchen, die mit westlichen Firmen verquickt sind, sowie für die prowestlichen politischen Kräfte wäre eine Orientierung auf die EU anfangs vorteilhaft. Im Weiteren würden sie jedoch wahrscheinlich den korporativen »Zentren« der EU unterstellt werden, wie dies in den Ländern Mittel- und Osteuropas der Fall war. So paradox das klingen mag, auch für die unabhängigen Gewerkschaften und eine Reihe von Nichtregierungsorganisationen (besonders solche, die für gleiche Rechte von homo-, trans- und intersexuellen Menschen kämpfen) muss die europäisch Integration nicht per se von Vorteil sein. Denn an der Peripherie der EU werden die europäischen Normen zum Schutz der sozialen und Bürgerrechte bekanntlich mit erstaunlicher Leichtigkeit verletzt, und die Brüsseler Bürokratie zeigt sich dem gegenüber erstaunlich blind, »übersieht« Verletzungen, wenn sie nicht die Interessen europäischer Konzerne oder der in Brüssel residierenden Generalstäbler der NATO betreffen.

Doch zurück zum Maidan: Im Vergleich zu 2004 sind die Nationalisten und Faschisten zu einer entscheidenden, gut organisierten Kraft geworden. Schuld an der erschreckenden Zunahme rechter nationalistischer und profaschistischer Organisationen in der Ukraine (wie auch in den Ländern des Baltikums) sind nicht nur die Machtorgane vor Ort, verantwortlich dafür ist auch die Europäische Union. Die Liberaldemokraten Europas haben schon einmal versucht, die faschistische Karte für ihre eigenen Zwecke zu ziehen - mit fatalen Folgen. Erinnert sei hier nur an das Münchner Komplott von 1938. Sich der heute in Kiew operierenden nationalistischen und faschistischen Kräfte zu bedienen, wie es einige ukrainische »Oppositionelle« und Emissäre der EU versuchen, ist ein Spiel mit dem Feuer.

Aus dieser knappen Analyse der Situation in der Ukraine ergibt sich eindeutig: Wir alle und besonders die Ukrainer müssen den Teufelskreis auswegloser Alternativen verlassen. Es geht dabei nicht um die Wahl des kleineren Übels. Es muss und kann eine geradlinige Antwort gefunden werden. Sie besteht in der Lösung der sozial-ökonomischen, politischen und kulturellen Probleme des Landes. Die Widersprüche und Konflikte sind nicht auf der Ebene pragmatischer Geopolitik zu lösen, sondern nur durch radikale ökonomische und politische Reformen in der Ukraine selbst. Hierbei können und sollten sowohl die Erfahrungen des Kampfes der europäischen demokratischen Linken als auch die äußerst widersprüchlichen, aber wichtigen Erfahrungen gemeinsamer, die Ukraine und Russland verbindender sowjetischer Geschichte kritisch genutzt werden.

Wichtig für linke Politik, die ihrem Wesen nach Klassenpolitik ist: Linke können und dürfen das Vorhandensein der Interessen des ukrainischen Volkes als eine konkrete und zugleich widerspruchsvolle Einheit verschiedener Ethnien, deren Geschichte und Kultur und Territorium nicht ignorieren. Die Entwicklungsstrategie der Ukraine kann und muss einzig vom ukrainischen Volk selbst bestimmt werden - und nicht von politischen Entscheidungsträgern (»policymaker«) in Russland oder Europa.

Abschließend möchte ich in Erinnerung rufen: Das höchste Kriterium des Fortschritts aller Völker ist und bleibt - entgegen allen postmodernistischen Regeln der »Dekonstruktion großer Narrationen« - die freie allseitige Entwicklung der Persönlichkeit, das heißt nicht nur ökonomisches Wachstum, sondern auch die Weiterentwicklung der menschlichen Qualitäten, die Lösung der sozialen, ökonomischen und humanitären Probleme. Eine aussichtsreiche, gerechte Alternative zum Wohl der Völker realisiert sich nicht, indem man sich einem »Imperium des Vertrauens« (USA oder EU) anschließt und zu dessen Peripherie wird. Auch nicht mittels einer Union von Oligarchen und Bürokraten halbperipherer Länder. Eine Lösung der auf dem Maidan geballt zum Ausdruck kommenden Probleme gelingt nur durch Fortschreiten auf dem Weg der Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. Nur ein solcher Weg wird auch zur Integration in die Weltgemeinschaft (als eine Gemeinschaft gleichberechtigter Völker und Kulturen) und zum Fortschritt der nationalen Kultur führen.

Dies ist kein abstrakter Rat: Dieser Weg kann schon heute beschritten werden - auch von Staaten, die nicht zu den am weitesten entwickelten und auch nicht zu den territorial größten der Welt zählen. Das beweist gegenwärtig eine ganze Reihe lateinamerikanischer Staaten, deren Völker sich von der »Bevormundung« der USA losgesagt und begonnen haben, ein sozial orientiertes demokratisches Modell der Entwicklung zu verwirklichen. Dort stehen geopolitische Erwägungen nicht im Vordergrund, sondern eine sozial-ökonomische und politisch-ideologische als Alternative zur Hegemonie des globalen Kapitals.

Aus dem Russischen übersetzt von Ruth Stoljarowa.