Ost-West-Brücke oder Streitobjekt zwischen den Mächten

In der Ukraine geht es um mehr als nur das Präsidentenamt - es geht um die nachsowjetische Ordnung

  • Klaus Joachim Herrmann
  • Lesedauer: 3 Min.
Eine Sonderrolle zwischen der EU und Russland spielt die Ukraine. Sie kann hierhin oder dorthin gehören, Brücke oder Puffer sein. Deshalb ist sie nun innen und außen Gegenstand eines erbitterten Streits.

Europa Ja oder Nein, entweder Brüssel oder Moskau, russlandfreundliche Macht oder westlich orientierte Opposition - bei jedem Thema befindet sich die Ukraine derzeit in der Konfrontation. Die Bilder eines sich zur Revolte ausweitenden Bürgerprotestes beherrschen die Medien und sind Ausgangspunkt politischer Parteinahme. Die strategische Auseinandersetzung verschwindet aber im Qualm der brennenden Reifen im Zentrum der Hauptstadt Kiew.

Es begann mit dem friedlichen Protest bis zu Hunderttausender Menschen gegen das, was als eine Absage an Europa verstanden wurde. Das eher vage und gerade für die Europäische Union wenig verbindliche Assoziierungsabkommen mit der Ukraine wurde von Präsident Viktor Janukowitsch nicht unterzeichnet. Das war das Ende seines Pokers um die besten Bedingungen. Es hatte aber nur als Aufschub erscheinen sollen, als pragmatische Entscheidung für 15 Milliarden Dollar russischer Kredite und Preisnachlässe bei Erdgas vor dem drohenden Winter. Wichtig genug für einen Staat nahe der Pleite. Weil der Kreml genau das bot, was dem Westen unbillig und unbezahlbar erschien, konnte Präsident Wladimir Putin sein strategisches Vorland etwas besser befestigen. Das war es ihm wert.

Chronologie: Kampf um die Macht in der Ukraine

21. November 2013

Die Regierung in Kiew legt überraschend ein Assoziierungsabkommen mit der EU aus »Gründen der nationalen Sicherheit« auf Eis. Tausende Menschen demonstrieren gegen diese Entscheidung.

1. Dezember

Hunderttausende fordern den Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch. Bei Zusammenstößen werden im Regierungsviertel mindestens 150 Menschen verletzt. Die Opposition um Vitali Klitschko fordert den Rücktritt der Regierung.

3. Dezember 

Die Opposition scheitert mit einem Misstrauensantrag gegen Ministerpräsident Nikolai Asarow. Im Regierungsviertel blockieren Demonstranten den Zugang zu Ministerien und zum Parlament.

8. Dezember

Bei einem der größten Massenproteste seit Jahren fordern nach Oppositionsangaben eine halbe Million Menschen Neuwahlen.

9. Dezember

Die Behörden leiten Ermittlungen gegen die Opposition wegen eines angeblichen Umsturzversuchs ein. Sicherheitskräfte räumen erste Barrikaden.

10. Dezember

Hunderte Kräfte der Sondereinheit »Berkut« (Steinadler) vertreiben Demonstranten aus dem Regierungsviertel. Der Protest auf dem zentralen Maidan-Platz geht weiter.

13. Dezember

Nach wochenlangen Protesten treffen sich erstmals Janukowitsch und Klitschko. Es gibt keine Annäherung.

17. Dezember

Russlands Präsident Wladimir Putin sichert Janukowitsch einen Kredit über 15 Milliarden US-Dollar (rund 11 Mrd Euro) zu.

22. Dezember

Zehntausende Menschen protestieren in Kiew zum fünften Mal hintereinander bei einer Sonntagskundgebung gegen die Führung.

16. Januar 2014

Das Demonstrationsrecht wird verschärft. Die Haftdauer für Blockaden von Regierungsgebäuden wird erhöht, »extremistische Aufrufe« werden unter Strafe gestellt. Ein Gericht verbietet zudem Demonstrationen in Kiews Innenstadt bis zum 8. März.

19. Januar

Hunderte mit Knüppeln ausgerüstete Oppositionelle versuchen, das Parlamentsgebäude zu stürmen. Mindestens 200 Menschen werden verletzt. Klitschko warnt vor einem Bürgerkrieg.

21. Januar

Nach blutigen Straßenschlachten geben sich Opposition und Staatsführung gegenseitig die Schuld an der Zuspitzung der Lage.

22. Januar

Bei Zusammenstößen mit Sicherheitskräften werden Hunderte Menschen verletzt und mindestens drei Demonstranten getötet, zwei von ihnen durch Schüsse. Nach der Eskalation der Proteste fordert die Opposition den Rücktritt von Janukowitsch binnen 24 Stunden.

23. Januar

Ein Treffen von Janukowitsch mit Oppositionellen bringt keinen Durchbruch. Die zersplitterte Opposition aus prowestlichen Kräften um Klitschko und gewaltbereiten Ultranationalisten will sich der Polizeigewalt nicht beugen.

24. Januar

Janukowitsch signalisiert Entgegenkommen. Er kündigt eine Kabinettsumbildung und eine Änderung der umstrittenen Verschärfung des Demonstrationsrechts an. Klitschko weist die Zugeständnisse als unzureichend zurück: »Janukowitsch muss gehen«. Im Westen des Landes besetzen Demonstranten Verwaltungsgebäude.

25. Januar

Die Opposition lehnt eine von Janukowitsch angebotene Regierungsbeteiligung ab. Ex-Außenminister Arseni Jazenjuk sollte neuer Regierungschef und Klitschko dessen Stellvertreter werden. Das Angebot sah auch Straffreiheit für festgenommene Demonstranten vor. Im Gegenzug sollten alle blockierten Plätze und Gebäude in Kiew geräumt werden.

26. Januar

Die Proteste werden in den Regionen ausgeweitet. In mehreren Städten in der Zentralukraine sowie in den Industriezentren Dnjepropetrowsk und Saporoschje versuchten Demonstranten, Verwaltungsgebäude zu stürmen. In Kiew ehren Tausende einen erschossenen Demonstranten mit einem Trauermarsch. (dpa/nd)

Schließlich machten USA, EU und NATO nie ein Geheimnis daraus, in den nachsowjetischen Raum um Russland wieder einrücken zu wollen. Das Programm der Östlichen Partnerschaft meint ja sogar namentlich die Anbindung ganz genau der früheren Sowjetrepubliken: Armenien, Aserbaidshan, Belarus, Georgien, Moldau und Ukraine. Für Europa, so heißt es auch offiziell, »würde die Partnerschaft mehr Stabilität und Sicherheit im Osten bedeuten«, wie die Europäische Kommission kund tat. Das neue System zur Raketenabwehr täte dann ein übriges.

Die Ukraine ist in diesem Raum sicher der wichtigste Faktor, nach der Größe, der Bevölkerungszahl von rund 46 Millionen Menschen und der Wirtschaftskraft. Nicht zu vergessen die direkte Nachbarschaft mit Russland, Belarus, Polen, der Slowakei, Ungarn, Rumänien und der Republik Moldau. So gesehen, muss die Ukraine nach Europa nicht erst eingeladen werden. Sie steckt ja mittendrin - aber eben nicht in der EU und ihren Strukturen. Die Assoziation, die unterschriftsreif vorlag, platzte jedoch.

Dasselbe droht in gewisser Weise aber auch den Vereinbarungen mit Russland. Denn ein Machtwechsel in Kiew würde den Kreml wohl nachdenken lassen, ob eine Ukraine auf Westwanderung noch als slawischer Bruder zu begünstigen wäre. Eng verwandt bleiben beide allemal. Kiew gehörte einst zur Rus wie Moskau. Was später »Ukraine« hieß, war im Russischen Reich noch »Kleinrussland«. Beide dort dominierenden Sprachen - Ukrainisch und Russisch - sind gemeinsamen ostslawischen Ursprungs. Ein starke Bindung an Russland ist besonders im Osten und Süden der Ukraine traditionell.

Schon vor gut anderthalb Jahrhunderten wurde um die Ost- oder Westanbindung ebenso gestritten wie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Dann auch um die Vorherrschaft der ukrainischen gegenüber der russischen Sprache. Nach Ukrainisch und Westen oder Russisch und Osten lassen sich auch die Parteien sortieren - hier die Vaterlandspartei von Expremier Julia Timoschenko bis zu ihren ultranationalistischen Verbündeten, dort die Partei der Regionen des Präsidenten Viktor Janukowitsch mit den Kommunisten. Hatten erstere nach der orangefarbenen Revolution 2006 große Hoffnungen enttäuscht, dann letztere seit ihrem Wahlsieg 2012.

Die Wirkung einer weiteren enttäuschten Hoffnung wurde sträflich unterschätzt. Erst kamen friedliche Demonstranten mit dem Wunsch nach Europa in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Dann kamen Politiker, die die Sache nicht besser machten. Mit der Radikalisierung eskalierte die Gewalt. Doch nicht nur geografisch, sondern auch historisch und kulturell wäre die Ukraine wie zum Brückenschlag zwischen Ost und West, zwischen Russland und EU wie geschaffen. EU-Kommissionschef José Manuel Barroso schließt die Möglichkeit von dreiseitigen Verhandlungen aus. Wenn aber nicht alle Beteiligten an einen Tisch kommen, dürfte die Ukraine Streitobjekt zwischen den Mächten bleiben.

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