Kaum Fakten über bewaffnete Neonazis

Bundeskriminalamt warnt: Hohe Affinität zu Waffen und Sprengstoff

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.
2011 flogen die NSU-Terroristen auf. 2012 erreichte die Anzahl rechtsmotivierter Delikte mit Waffen einen neuen Rekord. Die Regierung sieht ein herausragendes Gefährdungspotenzial - und stapelt tief.

Dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) fielen mindestens zehn Menschen zum Opfer, Dutzende wurden verletzt. Das weiß man. Doch wie viele Menschen wurden von Neonazis insgesamt seit der Herstellung der deutschen Einheit umgebracht? Das wollte der Innenausschuss des Bundestages gestern vom Innenministerium erfahren, doch dessen Chef bat um eine Woche Aufschub.

Nach dem Auffliegen des NSU untersuchen die Innenbehörden von Bund und Ländern 745 Tötungsdelikte (418 vollendete, 327 versuchte Tötungen) erneut auf einen möglichen rechtsextremistischen Hintergrund. Sicher ist: Das Ergebnis wird zeigen, dass mehr als die regierungsoffiziell zugegeben 63 Tötungsdelikte zu beklagen sind.

Fragwürdiger Erfolg

Das Innenministerium von Nordrhein-Westfalen hat nach der „nd“-Anfrage ermittelt, wie viele Rechtsextremisten nach den von Innenminister Ralf Jäger (SPD) angewiesenen Überprüfungen ihren Waffenschein verloren haben. Die Ausgangszahl ist, so wurde am Donnerstag mitgeteilt, von 99 auf 98 korrigiert worden. Elf Rechtsextremisten haben ihren Waffenschein verloren. Das bedeutet, 87 Neonazis verfügen in Nordrhein-Westfalen nach wie vor über einen Waffenschein.

Das Innenministerium werte die Überprüfung gegenüber „nd“ als Erfolg. Mehr gab die Gesetzeslage nicht her. hei

Trotzdem werden auch Zweifel gegenüber dem neuen Additionsergebnis aufkommen. Denn in den ostdeutschen Bundesländern wurden nur 43 Fälle überprüft. Doch gerade dort registrierte die Polizei seit 1991 einen überproportional hohen Anteil rechter Gewalt. Während Baden-Württemberg 216 Taten überprüft und Bayern 40 anzeigte, haben Sachsen und Thüringen nur je zwei gemeldet. Mecklenburg-Vorpommern hält man fünf Fälle für verdächtig.

Zur Überprüfung der Fälle hat man eine Art Katalog erstellt. Die Länder sollten NSU-gemäß auf Morde, Sprengstoffanschläge und Banküberfälle achten. Bei Tötungsdelikten sind Fragen zur Herkunft der Opfer zu stellen. Und natürlich geht es um den Einsatz von Waffen. Das NSU-Trio hatte 20 - Pistolen, eine Maschinenpistole, Revolver und Schrotflinten. Rund 1600 Schuss Munition lagen in der Wohnung herum.

Immer wieder melden Polizeibehörden, dass ihnen erfolgreiche Schläge gegen Rechtsextremisten gelungen sind, weil sie deren Waffendepots ausheben konnten. Und in der Tat kommen da Jahr um Jahr Hunderte Waffen zusammen.

Martina Renner, Innenpolitikerin der Bundestags-Linksfraktion wollte nun wissen, bei wie vielen rechtsmotivierten Straftaten Waffen zum Einsatz kamen. Die Regierung bestätigte mal wieder »eine hohe Affinität von Rechtsextremisten zu Waffen und Sprengstoff«, woraus »ein herausragendes Gefährdungspotenzial« resultiert. Doch die folgenden Auskünfte waren vage. Zwar hat man allerlei Dateien, Statistiken und gemeinsame Abwehrzentren aufgebaut, doch oft waren oder sind die anfallenden Daten nicht kompatibel. Das muss verwundern.

Trotz hochgelobtem Nationalen Waffenregister liegt der Bundesregierung angeblich auch kein »tagesaktueller Gesamtüberblick über waffenrechtliche Erlaubnisse oder Waffenbesitz bei Rechtsextremisten« vor. Man verweist auf eine Abfrage des Verfassungsschutzes aus dem vergangenen Jahr, nachdem »ca. 400 Rechtsextremisten über eine waffenrechtliche Erlaubnis verfügen«. Es ist jetzt 15 Monate her, dass der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD) sich empörte, dass in seinem Land 99 Rechtsextreme legal Waffen besitzen. Er wollte das ändern, ließ prüfen, inwieweit den Neonazis die Waffenerlaubnis wieder entzogen werden kann. Was ist daraus geworden? Sein Ministerium fand innerhalb eines Tages keine Antwort auf die simple Frage.

In Sachsen waren dem Verfassungsschutz 45 Neonazis bekannt, die legal Mordinstrumente besaßen. »Waffen gehören nicht in die Hände von Rechtsextremisten«, schrieb Markus Ulbig (CDU) auf seiner Facebook-Seite. »Hier müssen wir etwas tun und das Gesetz ändern.« Bisher hat er das nicht einmal versucht. Beide Länder sind beispielhaft für alle. Selbst Bremen, das einen Vorstoß zur Einziehung der Waffen wagte, kam damit nur teilweise durch.

Legal oder illegal - laut Bundeskriminalamt (BKA) sind »trennscharfe Unterscheidungen« ohnehin schwer. Es ist völlig unklar, wie viele Waffen in der Szene sind. Jedenfalls erreichte die Anzahl der rechtsextrem motivierten Delikte, bei denen Waffen eingesetzt wurden, 2012 einen Höchststand: 350 Fälle. Im Jahr 2011 waren es 224 Fälle, im Jahr davor 143. Damit hat sich die Anzahl solcher Delikte innerhalb von zwei Jahren mehr als verdoppelt. Für 2013 liegen noch keine Zahlen vor, doch angesichts deutlich gestiegener Angriffe auf Flüchtlingsheime erscheint eine Steigerung wahrscheinlich.

Die Zahlen sind erschreckend, dennoch vermutlich nur ein Teil der Wahrheit. Bei der Antwort auf eine Anfrage der LINKEN aus der 16. Wahlperiode hatte das BKA allein für die Jahre 2007 und 2008 667 Waffenfunde bei Rechtsextremisten angegeben. Fahnder stellten bei Rechtsextremisten in den Jahren 2009 und 2010 mehr als 811 Waffen sicher, darunter 15 Faustfeuerwaffen, 16 Langwaffen und 8 Kriegswaffen. Zwischen 2001 und 2011 hatte die Bundesanwaltschaft elf Fälle von kriminellen Vereinigungen und acht Fälle von terroristischen Vereinigungen registriert. Und noch sind die Ermittlungen zum Umfeld des NSU nicht abgeschlossen.

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