»Das System ist krank«

In ihrem Buch fordern zwei Rechtsmediziner einen besseren Schutz misshandelter Kinder

  • Fabian Lambeck
  • Lesedauer: 4 Min.
Zwei Rechtsmediziner der Berliner Charité schlagen Alarm: Jede Woche sterben in Deutschland drei Kinder an den Folgen von Misshandlung.

Der Fall der kleinen Yagrum aus Hamburg ist nur einer von vielen. Das Mädchen starb im Dezember 2013 an inneren Blutungen. Mediziner zählten später mehr als 80 Hämatome und Quetschungen. Ihr eigener Vater hatte sie misshandelt. Die Dreijährige musste auch sterben, weil die Jugendämter total versagten, wie ein Bericht der Jugendhilfeinspektion später feststellte.

Für Saskia Guddat und Michael Tsokos sind solche Fälle »traurige Routine«. Die beiden arbeiten als Rechtsmediziner an der Berliner Charité und haben nun ein Buch veröffentlicht, das wachrütteln soll, wie sie sagen. »Deutschland misshandelt seine Kinder«, so der Titel. Es handelt sich um harten Lesestoff. Die beiden Mediziner berichten von ihrer alltäglichen Praxis, und die ist zuweilen unfassbar. Da sind Dreijährige »von Kopf bis Fuß mit Hämatomen und Bissverletzungen übersät«, da werden Zweijährigen die Knochen gebrochen und sterben Kinder beinahe an inneren Blutungen, weil der eigene Vater ihnen immer wieder mit der Faust auf den Bauch schlug.

Das sind keine Einzelfälle, wie die Kriminalstatistiken aus den Ländern für 2012 zeigen, die Tsokos und Guddat zusammengetragen haben. Demnach sterben jede Woche drei Kinder in Deutschland an den Folgen von Misshandlungen. In der gleichen Zeitspanne überleben 70 »schwerst misshandelte« Kinder die Torturen. Die beiden Autoren verweisen auf Schätzungen, wonach jährlich 200 000 Kinder misshandelt werden.

Die Täter kommen dabei meist aus dem familiären Umfeld. »Die gefährlichsten Personen für ein Kind sind die Eltern, nicht der schwarze Mann«, so Tsokos.

Der Rechtsmediziner fordert Reformen beim Kinderschutz. »Da ist seit 20 Jahren nichts passiert«, behauptet er. »Das System ist krank«. Tsokos konstatiert Versagen auf allen Ebenen: So gebe es viele Richter, die medizinische Gutachten nicht verstehen oder gar nicht erst prüfen wollen. Deshalb blieben viele Taten ungesühnt und die misshandelten Kinder müssten wieder zurück zu ihren Peinigern.

Mit furchtbaren Folgen. Viele Täter waren früher selbst einmal Opfer. Kinder- und Jugendpsychiater bekämen dieselben Menschen zweimal zu sehen, so Tsokos und Guddat. »Zuerst als kindliche Opfer von Misshandlung oder Vernachlässigung und ein paar Jahre später als jugendliche Gewalttäter«. Somit produziert das System immer wieder neue Folterer. Etwa 70 Prozent der Täter, so schätzt man, wurden in ihrer Kindheit selbst misshandelt. Offenbar wird niemand böse geboren, sondern erst böse gemacht.

Die Kritik von Tsokos und Guddat gilt aber auch Kollegen, die Misshandlungen nicht erkennen oder sich an die Schweigepflicht gebunden fühlen und keine Anzeige erstatten.

Zudem seien die Mitarbeiter der Jugendämter oftmals überfordert. In ihrem Buch berichten sie von einem Berliner Sozialpädagogen, der 120 Fälle zu betreuen hat. Da behält kaum einer den Überblick. Besonders fatal: Kommunen mit vielen sozialen Brennpunkten sind oft auch notorisch klamm. Viele Fälle und wenig Geld ...

Besonders schwer sind die Vorwürfe gegen die freien Träger, die Eltern und Kinder vor Ort betreuen. So würden diese privaten Anbieter mehr verdienen, wenn sie die Kinder in den Familien ließen, so die Autoren.

Tsokos und Guddat fordern einen Systemwechsel. So müssten Risikofamilien besser kontrolliert und gefährdete Kinder schneller im Heim oder bei Pflegefamilien untergebracht werden. Zudem sollten die Mitarbeiter so geschult werden, dass sie Misshandlungen besser erkennen. Familienrichter sollten mehr Eltern das Sorgerecht entziehen.

Aus der Fachwelt kommen unterschiedliche Echos auf den Vorstoß der beiden Rechtsmediziner. »Es ist begrüßenswert, dass dieses Buch aufrüttelt«, sagt Heinz Hilgers, Präsident des Kinderschutzbundes gegenüber dpa. Die Vorschläge der Autoren hält er jedoch weitgehend für »unbrauchbar«. Die Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin zeigte sich reserviert. »Sicher kann fast jeder Rechtsmediziner aus seiner beruflichen Praxis Beispiele nennen, die die eine oder andere dieser Thesen stützen«, sagt ihr Vorsitzender Thomas Bajanowski der dpa. Allerdings handele es sich immer um Einzelfälle. Eine Verallgemeinerung werde dem Problem nicht gerecht.

Die Straf- und Familienrichter fühlen sich zu unrecht kritisiert. Eltern das Sorgerecht zu entziehen, dürfe immer nur ein letztes Mittel sein, so Andrea Titz, Vize-Vorsitzende des Deutschen Richterbundes.

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