Hausbesetzer öffnen Kulturzentrum

Melis Özbakır hat im Istanbuler Stadtteil Kadıköy ein leerstehendes Haus wiederbelebt

  • Lesedauer: 4 Min.
Melis Özbakır ist im Januar in ein leerstehendes Haus eingebrochen. Mit der Studentin für Kommunikationswissenschaft stiegen Ingenieure, Architekten und Anwälte in das Haus im Istanbuler Stadtteil Kadıköy ein. Die Polizei kam, war irritiert über die »reichen Leute« und ging wieder. Seitdem bauen Özbakır und ihre Mitstreiter darin ein Nachbarschafts- und Kulturzentrum auf. Das traditionelle türkische Instrument Ney soll hier unterrichtet werden. Außerdem soll es Sprachkurse in Kurdisch, Armenisch und Englisch geben. Mit Melis Özbakır sprach für »nd« Christina Palitzsch.

Aus der ersten politisch motivierten Hausbesetzung in der Türkei im Juli 2013 entstand das Don Kisot Sosyal Merkezi. Wann habt ihr beschlossen, ein weiteres Haus im Stadtteil Kadıköy zu besetzen?

Das Ganze war schon drei bis vier Monate lang vorbereitet worden. Wir haben da eine Lücke im Gesetz gefunden, bevor wir eingestiegen sind. In der Türkei fällt ein Haus erst in den Besitz der Stadt, wenn es 15 Jahre leer steht. Die Istanbuler Behörden hatten aber bereits jetzt das Haus zur Vermietung ausgeschrieben. Auf jeden Fall hat das Haus keinen richtigen Eigentümer. Am 11. Januar kamen dann 40 Menschen und brachen in das leer stehende Haus ein und begannen sauberzumachen. Nach zehn Minuten kamen zwölf Polizeibeamte und wollten wissen, was hier vor sich gehe. Wir antworteten, das wir das Haus besetzen würden und Punkt.

Was hat die Polizei daraufhin gemacht?

Es war eigentlich ganz lustig, denn die Beamten waren ziemlich verwirrt, dass unter den Besetzern zahlreiche Ingenieure, Architekten und Anwälte waren. Einer sprach in sein Walkie-talkie, dass es wohl reiche Leute seien. Er glaube nicht, dass sie Schaden anrichten würden, aber er verstehe auch nicht, was hier gerade passiere. Wir wurden aufgefordert, uns ruhig zu verhalten und nicht zu viele Menschen ins Haus zu lassen. Aber wir wollten natürlich viele Menschen erreichen!

Warum habt Ihr das Haus überhaupt besetzt?

Wir haben eigentlich alle den gleichen Wunsch: Wir wollen dem System entkommen und unsere Vorstellungen von einer freien Gesellschaft verwirklichen. Wir haben die gleichen Probleme wie überall auf der Welt, doch die öffentlichen Räume in der Stadt und die Möglichkeiten der Mitbestimmung werden immer kleiner. Dem wollen wir etwas entgegensetzen. Das Mahalle Evi ist ein gemeinschaftlicher Raum, an dessen Gestaltung alle teilhaben können und Herkunft, Geschlecht oder Religion nicht entscheidend sind.

Und wer kommt tatsächlich in das Mahalle Evi?

Ich öffne jeden Tag um elf Uhr morgens das Haus. Über den Tag kommen mindestens hundert Menschen an Wochenenden mehr. Manche wundern sich, was hier passiert, wenn ich ihnen aber die Situation erkläre, sagen sie, das ist gut, was ihr macht. Nachbarn besuchen uns, schenken uns Essen und Möbel, außerdem haben wir viel internationale Unterstützung von ausländischen Erasmus-Studenten. Das macht unsere Bewegung stärker und selbstbewusster. Sonst könnten wir nicht hier sein. Die Stadt wird es uns in Zukunft wohl auch nicht leichter machen.

Warum gibt es diese breite Unterstützung aus allen Schichten des Stadtteils?

Kadıköy ist ein etwas links eingestellter Stadtteil. Bei Protesten gegen neue Gesetze gab es die ersten Treffen immer in Kadıköy und Taksim, das sind die beiden wichtigsten Gegenden in Istanbul, wenn es um gesellschaftliche Veränderungen geht. Die Proteste starten hier und breiten sich dann auf das gesamte Land aus. Auch wir werden mit unseren Aktionen weitermachen. Wir wollen bald ein drittes Haus besetzen, am liebsten im Stadtteil Beyoğlu, in der Nähe vom Taksimplatz.

Wo seht ihr noch Probleme?

Die Regierung würde so ein Haus abreißen und etwas neues bauen, das Geld bringt. Das tun die Behörden überall. Dieses Haus ist fast 100 Jahre alt und hat einen historischen Wert. Aber es gibt nur eine Art zweitklassigen Denkmalschutz, der keinen Schutz bietet. Wir haben einige kunstvoll gemalte Wände gefunden, die können wir nicht einfach überstreichen. Wir sind fast fertig mit dem Aufräumen und die Workshops werden in zwei bis drei Wochen beginnen.

Welche Workshops werden hier stattfinden?

In zwei Wochen wird es ein Fußballturnier mit dem Don Kisot geben und einigen weiteren Mannschaften aus Kadıköy. Also ein UEFA-Cup der besetzten Häuser.

Dann gibt es verschiedene Dinge zu tun: Die historischen Wände werden restauriert, eine Bibliothek wird eingerichtet, die Fotowerkstatt mit eigener Dunkelkammer wird im ersten Stock aufgebaut. Musikworkshops sollen ebenfalls stattfinden: das traditionelle türkische Instrument Ney, das wirklich schwer zu spielen ist, werden wir hier unterrichten. Außerdem werden Sprachkurse in Kurdisch, Armenisch und Englisch stattfinden. Viele Menschen kennen diese Sprachen kaum, obwohl es viele armenische und kurdische Muttersprachler in der Türkei gibt. Diese Barrieren wollen wir abbauen.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal