Türkei: Daumenschrauben für Internetnutzer

Parlament verschärft Netzkontrolle - Kritiker sprechen von Zensur und Überwachung

  • Jan Keetman
  • Lesedauer: 3 Min.
Mit einem heftig umstrittenen Gesetz wird in der Türkei die Kontrolle des Internets verschärft. Das Parlament nahm in der Nacht zu Donnerstag einen Gesetzesvorschlag der Erdogan-Regierung an.

Offiziell soll das neue Internetgesetz in der Türkei vor allem dem Schutz von Kindern und Jugendlichen und allgemein jenem der Privatsphäre dienen. Kritiker wie Gürkan Özturan von den türkischen Piraten halten das aber für vorgeschoben und verweisen darauf, dass sich dieses Gesetz vorzüglich für die Zensur des Internets eignet.

Als Verletzung der Privatsphäre wurden in letzter Zeit insbesondere Videos angeprangert, die im Zusammenhang mit den jüngsten Korruptionsskandalen aufgetaucht sind und die Verwicklung regierungsnaher Personen in die Skandale belegen sollen. Wenn jemand meint, seine Privatsphäre werde durch eine Veröffentlichung im Internet verletzt, so muss er nicht mehr einen Antrag auf eine Einstweilige Verfügung zur Sperrung bei einem Gericht stellen, sondern kann sich an eine vom Kommunikationsministerium einzurichtende Stelle wenden, die schneller vorgehen kann. Allerdings meint Gürkan Özturan, dass solche Veröffentlichungen kaum grundsätzlich verhindert werden könnten, weil etwa die Korruptionsvideos sicher schnell anderweitig wie auf Facebook verbreitet würden. Da komme die Zensur der Schnelligkeit des Internets nicht hinterher. Trotzdem kann das Gesetz natürlich erheblich behindern.

Jüngstes Beispiel ist die Aufnahme eines Telefongesprächs, das Recep Tayyip Erdogan geführt haben soll. Auf einer Reise nach Marokko im vergangenen Sommer schaltete der Ministerpräsident einen türkischen Fernsehsender ein und sah, dass im Videotext die Rede eines Oppositionspolitikers lief. Umgehend griff der Regierungschef zum Telefon und rief beim Sender an, wo man viel Verständnis für die Klagen Erdogans hatte. Diese Veröffentlichung gilt als klarer Eingriff in die Privatsphäre des Politikers und fiele damit unter das neue Gesetz. Auch indirekte Zensur ist jetzt möglich. Die Regierung hat zumindest offiziell keine Möglichkeit, ohne Gerichtsbeschluss die Verbreitung eines Zeitungsartikels auf Papier zu verhindern. Im Internet ließe sich derselbe Inhalt nun problemlos sperren.

Der wohl wichtigste Punkt an dem neuen Gesetz: Es ermöglicht eine gigantische Überwachung. Für zwei Jahre soll alles, was die derzeit 34 Millionen Internetnutzer im Land tun, gespeichert werden. Auf welche Seite sie gehen, welche Suchanfragen sie stellen, all das soll registriert werden. Zugang zu diesen Daten hat wiederum die Regierung ohne gerichtliche Kontrolle. Hintergrund bilden die türkischen Antiterrorgesetze, die es erlauben, auch Meinungsäußerungen als terroristische Straftaten zu werten. Zwar hat Erdogan angekündigt, das Antiterrorgesetz, das der Regierung mittlerweile selbst lästig geworden ist, abschaffen zu wollen. Doch sollen Teile einfach ins Strafgesetzbuch wandern. Damit herrscht eine große Unsicherheit darüber, was strafbar sein könnte - was in vielen Fällen zur Selbstzensur führen dürfte.

Die EU-Kommission hat das neue Gesetz am Donnerstag mit deutlichen Worten kritisiert. Es müsse in Übereinstimmung mit EU-Standards neu gefasst werden. Aufgefallen ist Beobachtern noch etwas anderes: Eigentlich sollte das Gesetz am Dienstag beschlossen werden, während Ministerpräsident Erdogan in Deutschland Wahlkampf machte und die Vorzüge seines Landes, oder besser gesagt seiner Regierung, pries. Doch dann verzögerte sich die Verabschiedung bis Mittwochabend. Wollte da jemand im Ausland nicht mit unbequemen Fragen konfrontiert werden?

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