Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Im Eröffnungsfilm des Berlinale Wettbewerbs entzückt Wes Anderson mit »Grand Budapest Hotel«

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Es gibt eine Art, die Dinge so krampfhaft in Ordnung zu halten, dass es zwangsläufig chaotisch wird. Man kann dies auch exzentrisch nennen. So wie die Filme des immer noch recht jungen Amerikaners Wes Anderson, dem ewigen Wunderkind des Weltkinos. 2005 verblüffte er im Berlinale Wettbewerb mit »Die Tiefseetaucher«. Menschen auf einem Forschungsschiff, einem schwimmenden Zoo nicht unähnlich. In freier Anlehnung an Jacques Yves Cousteau und seine »Calypso« sahen wir dort das bröckelnde Monument eines berühmten Forschers, der die Rolle des Medienstars zelebriert und doch zugleich von ihr aufgerieben wird. Woher nehme ich bloß die nächste Sensation, wer aus der Crew muss jetzt von einem Hai gefressen werden, damit man uns beachtet?

Es liegt ein Hauch von Wahnsinn über Wes Andersons Filmen - vom skurrilen Außenseiterepos »Rushmore« über »Die Royal Tenenbaums« bis zu »Dajeeling Limited«. Immer beweist sich Anderson dabei als ein Souverän des absurden Blicks auf das, was wir Alltag nennen, der doch latenter Ausnahmezustand ist. Seine Filme sind bis zur Perfektion getriebene Mikrokosmos-Innenansichten; Gruppen von Menschen mitten im ganz normalen Irrsinn - und der Regisseur bewirtschaftet diese Ansammlung von Exoten so liebevoll, als wäre es seine liebste Kakteenzucht. Nebenbei bemerkt, diese filmischen Wunderwerke erwiesen sich an der Kinokasse dann sämtlich als schwer verkäuflich - sie sehen eben so überaus künstlich aus wie es jeder Film, der nicht lügt, nun mal ist.

Fakten zur Berlinale
 

Die Berlinale im Netz

Unter dasND.de/berlinale finden Sie weitere Artikel zum Filmfestival sowie die Beiträge aus der Printausgabe. Das vollständige Festival-Programm und weitere Infos finden Sie unter www.berlinale.de. Die Berlinale auf Twitter, Facebook, Youtube und Instagram. Charlotte Noblet begleitet für uns die Berlinale auf Storify.

Tickets und Programm

Der Kartenvorverkauf findet jeweils drei Tage im Voraus, für die Wettbewerbswiederholungen vier Tage im Voraus statt. Alle Informationen zum Ticketkauf finden Sie hier. Das komplette Festivalprogramm können Sie hier als PDF-Datei herunterladen oder unter www.berlinale.de einsehen.

Die 
Festival-Jury

James Schamus (Jury-Präsident): Der US-Amerikaner ist Produzent und Drehbuchautor (»Brokeback Mountain«, »Der Eissturm«).
Christoph Waltz: Der Deutsch-Österreicher ist Oscar-prämierter Schauspieler.
Barbara Broccoli: Die US-Amerikanerin ist Produzentin, unter anderem der »James Bond«-Filme.
Greta Gerwig: Die US-Schaupielerin gilt als Galionsfigur des US-amerikanischen Independent-Kinos.
Michel Gondry: Der Franzose ist Regisseur.
Tony Leung: Der in Hongkong geborene Schauspieler gehört zu den bekanntesten Darstellern des chinesischen Kinos.
Mitra Farahani: Die iranische Filmemacherin lebt in Paris.
Trine Dyrholm: Die Dänin gehört zu den erfolgreichsten Schauspielerinnen ihres Landes.

Die Filme des
 Wettbewerbs

Die Berlinale-Wettbewerbsfilme 
in alphabetischer Reihenfolge:

»Bai Ri Yan Huo«, Volksrepublik China, von Yinan Diao
»Boyhood«, USA, von Richard Linklater
»Chiisai Ouchi«, Japan, von Yoji Yamada
»Historia del miedo (History of Fear)«, Argentinien / Uruguay / Deutschland / Frankreich, von Benjamin Naishta
»Jack«, Deutschland, von Edward Berger
»Kraftidioten (In Order of Dis- appearance)«, Norwegen, von Hans Petter Moland
»Kreuzweg«, Deutschland, von Dietrich Brüggemann
»La belle et la bête (Beauty and the Beast)«, Frankreich / Deutschland, von Christophe Gans
»La tercera orilla (The Third Side of the River)«, Argentinien / Deutschland / Niederlande, von Celina Murga
»La voie de l'ennemi (Two Men in Town)«, Frankreich / Algerien / USA / Belgien, von Rachid Bouchareb
»Macondo«, Österreich, von Sudabeh Mortezai
»Praia do Futuro«, Brasilien / Deutschland, von Karim Aïnouz
»Tui Na (Blind Massage)«, Volksrepublik China / Frankreich, von Ye Lou
»Wu Ren Qu (No Man's Land)«, Volksrepublik China, von Hao Ning
»Zwischen Welten (Inbetween Worlds)«, Deutschland, von Feo Aladag
»71«, Großbritannien, von Yann Demange
»Aimer, boire et chanter (Life of Riley)«, Frankreich, von Alain Resnais
»Aloft«, Spanien / Kanada / Frankreich, von Claudia Llosa
»Die geliebten Schwestern«, Deutschland, von Dominik Graf
»Stratos«, Griechenland / Deutschland / Zypern, von Yannis Economides
»The Grand Budapest Hotel«, Großbritannien / Deutschland, von Wes Anderson, Eröffnungsfilm
»The Monuments Men (Ungewöhnliche Helden)«, Deutschland / USA, von George Clooney
»Nymphomaniac Volume I«, Dänemark / Deutschland / Frankreich / Belgien / Schweden, von Lars von Trier  (Quelle: epd)

 

 

 

Um einen Hauch von Verrücktheit geht es auch in dem diesjährigen Eröffnungsfilm des Berlinale-Wettbewerbs »Grand Budapest Hotel«. Hier weht er uns an als eine Geschichte aus dem alten Europa. So muss man es wohl sagen. Es scheint überhaupt ein Trend des neuen amerikanischen Kinos zu sein, sich aus der Neuen wieder zurück in die Alte Welt zu träumen. Woody Allen mit »Midnight in Paris«, Jim Jarmusch mit »Only Lovers Left Alive«, John Krokidas mit »Kill Your Darlings« bersten fast vor Melancholie, gepaart mit einem bitter ironischen Blick auf die Gegenwart.

So wirkt Wes Anderson fast wie der Spitzweg des modernen Kinos. Seine Filme werden von lauter sympathischen Sonderlingen bevölkert. Nun also gehen wir mit ihm ins Grand Hotel. Menschen im Hotel? Diesen Film gibt es schon seit den 1930er Jahren (mit Greta Garbo), gedreht nach dem Buch von Vicky Baum. Aber so wie hier gibt es den Grand-Hotel-Film eben doch noch nicht, denn Anderson liest Vicky Baum über Kafkas »Amerika« - und da kommt ein dämonisches Funkeln ins Spiel.

Man kann und soll »Grand Hotel Budapest« nicht nacherzählen. Nur so viel: Es ist eine Zeitreise, die nichts Nostalgisches hat. Die Gesellschaft der Grand Hotels ist in Zeiten der Eigentumlofts in jedem Preisniveau bereits eine ausgestorbene - wie das Schicksal des »Des Bains« auf dem Lido di Venezia zeigt. Andersons Melancholie ist klarblickend - und dabei von einer virtuell ins Extreme getriebenen poetischen Verwandlungskraft. Ohne Computeranimation kann man so einen von Einfällen überbordenden Bilderstrom längst nicht mehr dirigieren.

Gedreht wurde übrigens in Görlitz, denn wo sonst findet man noch derartige Altstädte! Aber das Resultat der gewaltigen High-Tech-Mobilmachung bei Anderson ist, dass alles wieder nach Handarbeit aussieht - nur eben mit ganz anderen Möglichkeiten. »Grand Budapest Hotel« ist kein kalt kalkuliertes Produkt geworden, nein, es ist ein Kunstwerk, in dem jedes Detail von der Liebe seiner Schöpfer zeugt. Ein merkwürdiger, ein würdiger Eröffnungsfilm der Berlinale! Und es ist - dennoch, oder gerade deshalb! - ein Film der Schauspieler.

Anderson erzählt seine Geschichte von Menschen im und um das Grand Hotel in Blenden vor und wieder zurück. Die einstige Pracht weicht im Zeitraffer einem tristen und billigen Funktionalismus von Plaste und Elaste - und kaum sind wir in den 1960er Jahren angekommen, geht es wieder zurück in die frühen 30er. Die Achse, um die sich alles dreht, ist der Concierge Monsieur Gustave, unwiderstehlich von Ralph Finnes gespielt. Ein seinen Charme (besonders alten vermögenden Damen gegenüber) wie ein unerschöpfbarer Liebhaber ausspielendes Funktionsteil des Hotelapparates; aber Gustave erledigt hier keinen Job, sondern scheint im Dienste einer höheren Mission zu stehen!

Als eine seiner besten Gäste, Madame D. (erfrischend geriatrisch: Tilda Swinton), überraschend stirbt, geht er zusammen mit dem »Lobby Boy« Zero (ebenfalls unwiderstehlich in seinem höchst natürlichen Exotismus: Tony Revolori) auf eine gefährliche Reise. Denn inzwischen droht Krieg, die Grenzen scheinen unpassierbar. Und dann wird es wahrhaft tumultös: Des Mordes verdächtigt, kommt Monsieur Gustave ins Gefängnis, wo er, dank seines unversiegbaren Charmes, schnell neue Freunde findet. Das sieht dann ungefähr so aus wie eine vorsätzliche James-Bond-Persiflage, wie Anderson überhaupt Filmzitate in einem Tempo zusammenbaut, dass man immer wieder überrascht ist, was sich aus dieser Montage-Form alles Neues hervorzaubern lässt.

Eine Odyssee beginnt, jene des 20. Jahrhunderts, an dessen Ende die Grand Hotels als Biotop ausgedient zu haben scheinen. Warum? Vermutlich, weil es keinen solch raumgreifenden Persönlichkeitstyp wie Monsier Gustave mehr gibt, keinen Sinn für Stil und Form, auch keine Verbindung mehr von Geld mit Tradition und Kultur. Das ist wohl die Kernaussage dieser ebenso irren wie witzigen Collage, die einen Oscar Wilde hätte entzücken können.

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