Mexiko gerät aus dem Gleichgewicht

Die schweren Folgen der appetitlichen Tacos, Tortas und Tortillas

  • Knut Henkel, Mexiko-Stadt
  • Lesedauer: 7 Min.
70 Prozent der Mexikaner sind übergewichtig. Weltweit hat das lateinamerikanische Land die dicksten Schüler. Eine Zeitbombe für das Gesundheitssystem.

»Ich bin hier, weil ich Todesangst empfunden habe und neu anfangen will«, erklärt Claudia Montoya. Die Frau Ende 30 liegt in einem der sechs Betten der Station für Übergewichtige im Hospital General Rubén Leñero. »Bariatría«, die Ziffer 1223 und Sekretariat für Gesundheit stehen auf dem Schild über dem Vorhang, der ihr Zimmer vom Flur der Station abtrennt.

Relativ breit und mit zahlreichen Türen und Vorhängen versehen ist der Flur. Von ihm gehen nicht nur die sechs Patientenzimmer ab, sondern auch diverse Räume, in denen behandelt, analysiert und diagnostiziert wird. Auch die beiden Rollstühle, die für etwas fülligere Patienten vorgesehen sind, warten hier auf den nächsten Einsatz. In einem der beiden dunkelblauen, mit Kunstleder bezogenen und mit einer extrabreiten Sitzfläche versehenen Stühle wurde auch Claudia Montoya zum Operationssaal gefahren. Das ist erst drei Tage her. Da hat Chefarzt Francisco José Campos den Magen von Claudia Montoya verkleinert, um ihr den Weg in ein neues Leben zu ebnen.

Weg von Tortas, Tacos, Wein und Käse will die Franco-Mexikanerin, die vor ein paar Wochen einen doppelten Schock erlitt. »Ich bin zusammengebrochen und dann haben die Ärzte festgestellt, dass ich unterzuckert war, einen hypoglykämischen Schock hatte. Das war furchtbar. Da habe ich erst erfahren, dass ich Diabetikerin bin und besser auf mich aufpassen muss.« Die Mutter einer achtjährigen Tochter ist zu Dr. Francisco Campos gekommen, um sich helfen zu lassen. Für Claudia Montoya war ein Punkt erreicht, wo ihr klar wurde, dass sie ihr Leben ändern muss. »Ich wollte mein Kind nicht allein lassen, habe mich für das Leben entschieden und für die Klinik.«

In der Familie löste die Entscheidung auch Irritation aus. Die Tragweite der Erkrankung wollten längst nicht alles wahrhaben. »Nichts ungewöhnliches in Mexiko«, so Chefarzt Campos. Der 58-Jährige, dessen drahtige Figur kaum ein Gramm Fett erahnen lässt, weiß, wie über Übergewicht, Fettsucht und die Folgeerkrankungen hinweggesehen wird. »Wir wollen es schlicht nicht wahrhaben, dass unsere Konsumgewohnheiten uns krank machen.«

Das ist allerdings kaum zu übersehen. Gleich gegenüber von der Klinik, die sich im Zentrum von Mexiko-Stadt befindet, säumen zahlreiche Imbissstände die Straße. Tacos, Tortas, Gorditas und Papas, das angesagte Quartett des mexikanischen Fast Food, werden genauso angeboten wie Fruchtsäfte und Obstsalate. Doch am meisten los ist dort, wo frittiert, geröstet und dick bestrichen wird. Gorditas, die mit Hühnerfrikassee oder Rindergeschnetzeltem gefüllten Maisfladen, die frisch frittiert auf den Teller kommen, sind genauso ein Renner wie die frittierten Maischips, Tacos genannt, die mit Dips, Pasten oder kleinen scharfen Eintöpfen gereicht werden. Auch bei den Sandwiches, den Tortas, ist reichlich, dick und saftig die Devise. Ohne eine dicke Schicht Mayonnaise kommt kaum eine Torta aus, und Papas, ausgebackene Kartoffelchips, werden mit allerlei Chili-Soßen in großen Tüten geordert und manchmal schon zum Frühstück verzehrt.

»Nichts ungewöhnliches, denn unsere Esskultur hat sich mehr und mehr auf die Straße verlagert«, erklärt Dr. Campos. Die meisten Mexikaner haben zu wenig Zeit und zu wenig Geld, sich vernünftig zu ernähren, so der Fachmediziner. Nicht zu unterschätzen ist zudem der US-Einfluss. Fast-Food-Ketten aus dem Nachbarland haben das Land mit ihren Produkten vom Hamburger über den Hot Dog bis zur Serien-Pizza überschwemmt und sich ihren Platz in der mexikanischen Esskultur gesichert. Mit den Ketten kam auch die Lust an Mayonnaise und Ketchup ins Land.

Ungleich wichtiger ist jedoch der explosionsartige Anstieg des Konsums von Softdrinks. »Die wurden vor 20 Jahren nur auf Familienfeiern gereicht, standen nicht schon zum Frühstück auf dem Tisch, wie es heute bei einigen Familien der Fall ist«, erklärt die Ernährungswissenschaftlerin der Station, Diana Maldonado. Heute liegt der Pro-Kopf-Verbrauch bei 163 Liter Softdrinks im Jahr - das ist Weltrekord.

Diana Maldonado arbeitet gemeinsam mit zwei Kollegen, drei Psychologen und fünf Ärzten, die die Operationen durchführen, auf der Station. Hinzu kommt ein engagiertes Team von Krankenpflegern und -schwestern. »Die Ausstattung und die Betreuung sind großartig, es ist toll hier«, bestätigt Claudia Montoya. Sie könnte sich durchaus eine Therapie in einer Privatklinik leisten. Sie fand allerdings Aufnahme in der staatlichen Klinik, weil sie entschieden hat, ihr Leben zu ändern. »Das ist das A und O. Wir operieren nicht, wenn wir nicht sicher sind, dass die Perspektiven reell sind und die Patienten den Sprung aus der Fettleibigkeit schaffen können«, erklärt einer der Assistenzärzte, Luis Zurita Macias.

Bei Claudia Montoya scheint das der Fall zu sein, denn sie überlegt bereits, aktiv zu werden gegen die Fettleibigkeit, eine Stiftung zu gründen und aufzuklären. »Ein Kernproblem ist jedoch, dass gesundes Essen in Mexiko oft teurer ist als Fertiggerichte und Co.« Das bestätigt auch Ernährungswissenschaftlerin Diana Maldonado: »Tamales, also mit Huhn, Rind oder Gemüse gefüllte Maisfladen, kosten 20 Peso (1,10 Euro), ein bunter Salat 50 Peso«, rechnet die junge Frau vor. Ähnlich verhält es sich mit frischen Fruchtsäften aus dem Mixer, die deutlich teurer sind als Softdrinks, die genauso viel kosten wie Wasser mit oder ohne Kohlensäure.

Ein Missverhältnis, von dem überproportional stark die armen Bevölkerungsschichten belastet sind, so Oberarzt Campos. Er plädiert für Prävention, Bildung und Schulküchen, in denen Softdrinks und Frittiertes auf dem Index stehen. Doch das mutet an wie eine Halluzination, denn bisher macht die Zentralregierung kaum Anstalten, mehr für die Gesundheit der Bürger zu tun. Einzig mit der am 1. November 2013 beschlossenen Steuer auf Lebensmittel mit mehr als 275 Kalorien pro 100 Gramm, die zum 1. Januar fällig wird, zeigt die Regierung, dass sie Notiz vom Problem genommen hat. »Doch glauben Sie nicht, dass die eingenommenen Gelder für Prävention und Aufklärung eingesetzt werden. Ein entsprechendes Programm gibt es nicht«, ärgert sich Dr. Campos.

Das ist überfällig, denn schon bei 14-Jährigen wird Diabetes diagnostiziert. Rund 32 Prozent der Schüler sind übergewichtig oder gar fettleibig. Für das Gesundheitssystem sind das schlechte Nachrichten, denn schon 2012 wurden rund sieben Milliarden US-Dollar für die Folgen von Übergewicht und Fettleibigkeit ausgegeben. Das sind sieben Prozent des Gesundheitsetats und schon jetzt ist klar, dass 2013 die Marge gestiegen sein dürfte, urteilen Experten vom Gesundheitssekretariat der mexikanischen Hauptstadt.

In Kindergärten und Schulen müsste man ansetzen, die Kinder zum Kochen animieren, die Lust am Gesunden wecken. »Doch dafür gibt es in Mexiko in der Regel keinen Etat«, klagt die Gesundheitsexpertin Eloy Yaneth Silva Soto von der Caritas. Einige wenige Piloteinrichtungen, die von privaten Stiftungen Zuschüsse erhalten, kennt sie. Aber die Secundaria, die nur einen Steinwurf vom Hospital General Rubén Leñero entfernt liegt, gehört nicht dazu. Eine Schulküche für die rund 2100 Schüler gibt es nicht. So versorgen sich die angehenden Abiturienten nahezu an den gleichen Imbissständen, die auch die Patienten des Krankenhauses ansteuern.

»Das ist ein Teufelskreis. So kommen wir von der kalorienreichen Kombination aus süßer Brause und fettigem Fast Food nicht weg«, kritisiert Chefarzt Campos. Er plädiert für die bessere Kennzeichnung von Kalorienbomben im Supermarkt. Dort verdrängen Fertiggerichte mehr und mehr Gemüse und Obst, belegt eine Studie der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO).

Immerhin kann sich die Erfolgsquote der Klinik sehen lassen, nur wenige Patienten werden rückfällig. Obendrein gibt es noch einen Multiplikatoreffekt. Hinter jeder Frau, die sich in der Klinik operieren lässt - 70 Prozent der Patienten sind Frauen -, stehen in aller Regel zwei bis vier Angehörige. »Die ändern mit der Mutter oder Partnerin ihre Ernährungsgewohnheiten«, freut sich Dr. Campos, der heute morgen bereits einen Magen verkleinert hat.

Mehr als 700 Operationen wurden an der kleinen Klinik im Laufe der letzten fünf Jahre durchgeführt. Auf der Warteliste stehen mehr als 1000 Patienten. Auch deshalb wird die Station im nächsten Jahr auf zehn Betten erweitert. Der Bedarf ist da - und daran wird sich aller Voraussicht nach so bald nichts ändern.

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