Das Streunen der Hunde

Durs Grünbein und Aris Fioretos im Dialog: »Verabredungen«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Noch immer ist es eine der schönsten Definitionen dessen, was ein Interview sei: Peter Sloterdijk schrieb, in jedem besseren Frage-Antwort-Fluss »erinnern sich die Gesprächspartner gegenseitig an ihre intelligenteren Möglichkeiten. Man entdeckt die Freude, navigationsfähig zu sein in einem Problemraum«. Solche Gesprächsweise mit ihrer beflügelnden Kontur ist ganz und gar Solidarität von Menschen miteinander, die nicht länger unterfordert sein möchten.

Hier nun ein Beleg solcher Ausweitungen der Denkzone - der schwedische Schriftsteller Aris Fioretos (mit griechisch-österreichischen Wurzeln) und der deutsche Dichter Durs Grünbein im Dialog. »Verabredungen« ist ein grandioser, hoch und weit zielender Schlagwechsel des Geistreichtums. Im Herbst 1995 startete das Unternehmen, im Abstand von Jahren dann der unablässige Positions- und Pointenaustausch, in Dresden und in Stockholm, in der Wüste bei Las Vegas und vorm gähnenden Loch von Ground Zero in New York. Auch in Berlin. Ansichtskarten werden schließlich hin- und hergeschickt, das ist die postalische Fortsetzung des Frage- und Antwortmarathons, dessen Etappen einen einzigen Ausgangspunkt besitzen: Kein Thema darf zu gering sein; und nichts Geringes, das nicht groß deutende Impulse zuließe. Das Prinzip: »Gott ist die Wüste, sagt Meister Eckhart. Fällt dir dazu was ein?«

Den Ausnahmezustand nennt Grünbein die »wirkliche konkrete Utopie« des Kommunismus und »die Administration von Staat und Wirtschaft« deren schwachen Abglanz - der Mauerbau auch als Versuch, ein Ideendrama von der Umwelt zu isolieren, um es möglichst ungestört aufzuführen. Das Ende dessen war nicht Aufbau, sondern »Verfall, kleinbürgerlicher Biedermeier«.

Fioretos bezeichnet die Erinnerung als »Sand im Getriebe«, es gehe um diese »harten Körner der Vergangenheit, die es uns notwendig machen, innezuhalten, verärgert oder verwundert darüber nachzudenken, ob das Dasein vielleicht anders geordnet werden könnte«. Anders, als es uns die Medien weismachen wollen, mit ihrem ständigen Beschuss durch Gegenwartsreize. Der Wert der Erinnerung bestehe darin, mit etwas nicht zurechtzukommen, sie ist »der unverdaute Teil dessen, was wir erlebt haben«.

Wer Erinnerung so begreift, befreit sich von Verklärungen, die unvermeidlich in die Lebenslüge führen: War doch alles nicht so schlimm!, war doch besser als heute!, nein, ich habe mir nichts vorzuwerfen!, ja, ich war ein kritischer Geist! Beim Fernsehen, so der deutsche Dichter, gehe es »immer nur um die In-Zeit, die Kunst dagegen strebt mit allen schöpferischen Kräften nach einer Aus-Zeit«. Schöner Ursprung aller Produktivität: der Wille, »selbst den ersten Sonntag festzulegen und eine eigene Zeitrechnung zu schaffen« (Fioretos).

So geht es von Thema zu Thema, von Dichter zu Dichter, von Pound zu Kafka, vom Berliner Fernsehturm an die Dresdner Elbe, von Freud zu August dem Starken, vom Musenkuss zum Mahnmal für die ermordeten Juden Europas. Jeder sieht im jeweils anderen den kongenialen Sparringpartner, an dessen Ausdruckskraft sich das eigene Denkvermögen entzündet. Das Gespräch als glückliche Heimkehr ins Selbstgespräch; nicht zueinander reden, sondern miteinander, voreinander. Schöne Ferne von Überzeugungsfuror oder Argumenteneifer. Weltbeobachtung statt Weltanschauung. Diese Diskurse füllt ein leidenschaftlicher Klang, es geht sehr gebildet zu, und die Assoziationen verzichten nicht auf Hochmut und Extravaganz - aber es drängen sich nirgends Großformate der Bewertung auf, wie man sie aus dem erwähnten Mediengeschäume kennt. Besagte Bildung treibt das Denken voran, es federt hinauf zu geistfordernden Plateaus; der Leser möge dabei freilich Lust und Liebe haben, auch mal frohgemut zu kapitulieren.

Aber so etwas wie dieses Buch, so etwas wie diese ausgesprochene rare Art, in der sich Menschen aufeinander beziehen, wirkt wie ein beruhigender, tröstlicher Adel - gegen jene Meinungsinkontinenz, die sich unentwegt und un-verschämt ins Digitale ergießt, die zwischen Kopf und Herz und tastaturflinker Hand nur noch allerkürzeste Wege und daher keine Bedenkzeit mehr kennt, wie sie immerhin noch jedes halbwegs anständige Quiz pflegt.

»In der Rolle des Soldaten habe ich unendlich viel über mich gelernt, über mein Anpassungsverhalten, meine Beobachtungsgaben, meinen Überlebenstrieb«, bekennt der einstige NVA-Soldat Grünbein. »Mit der Attacke auf die beiden Türme ist das wahre Zeitalter nach dem Kalten Krieg ausgebrochen: Die Errungenschaften des Westens sind gegen ihn verwendet worden, aus Zivilflügen wurden Kamikazes der kollektiven und unfreiwilligen Sorte.« So Fioretos. Im Ostblock sah Grünbein eine »aktivistische Gesellschaftsordnung, in der alles vor lauter Utopie und Vorwärtsdenken zu erstarren drohte«. Und über die Wüste meint Fioretos, sie sei »ein begehbarer Tod, eine materielle Variante der leeren Zukunft, die sich auf einmal in unserem Präsens ausgebreitet hat«.

Der literarische Grad der Gespräche, die nichts Authentisches oder unmittelbar Abgelauschtes haben, ja, denen jedwede Zufälligkeit geradezu ausgetrieben wurde (O-Ton im Schriftlichen ist pure Faulheit oder Unfähigkeit gegenüber der Sprache!) - dieser literarische Grad wirkt wie ein trotziges, souverän gehandhabtes Kontrastmittel gegen den schlechten Witz der Verständigung, den wir Kommunikation nennen, facebookgeschädigt, twitterversehrt. Du liest dich hinein in ein blitzendes Repertoire der dialogischen Bindungsstärke zweier unabhängiger Geister.

»Durch das ganze zwanzigste Jahrhundert streunen die Hunde«, sagt Grünbein an einer Stelle. Verweis auf Pawlows Reflex-Experimente, Verweis also auf die Zwingburgen der Ideologie, in denen der wie immer definierte neue Mensch hervorgebracht und gezähmt werden sollte (und wo die Künstler als »Ingenieure der Seele« galten). Verweis aber auch aufs Abenteuer des Streunens, das von keinerlei Ordnungsstreben verhindert, gedämmt werden kann. Immer siegt irgendwann ein Freiheitswille, der sich zwar den Schmutz, den Staub des Lebens auf die Haut holt, aber dabei seine Lebendigkeit erfährt. »Der Dichter war immer der Zeitverräter, Zeitverschwender par excellence. Er schert sich immer nur oberflächlich um die Aufregungen seines Zeitalters und behält stattdessen die bleibenden Formen im Blick.« So Durs Grünbein, der sie »wahren Epiphanien sich aus der Brühe des Alltags erheben« sieht - und damit wohl jenen deutschen Moment im Herbst 1989 meint.

Die Auftürmungen des Wissens rundum schirmen uns ab. So hat man denn im Netz-Zeitalter den Eindruck, einem wilderen Bewusstsein von uns selbst entfremdet zu sein. Die sichere, laute Meinung walzt ständig gegen Geheimnisse und Nebel. Wir sind Gezüchtigte, denen dies Wort wohl wenig gefiel und die daher lieber von sich sagen: Aufgeklärte. Unser Innerstes scheint durch technische Möglichkeiten nach außen getragen zu sein. Was wir denken, ist zuvörderst auf die Beherrschbarkeit der Dinge gerichtet. »Alles klar!« ist allein schon am Telefon zur Hauptvokabel der gedankenlos gelogenen Gewissheit geworden. Die allgewaltige Durchlässigkeit bewirtschaftet auch unseren Schmerz, unsere Lust, unsere Furcht. Durch Aufklärung halten wir uns und die Welt für geklärt, und alle politische Programmatik bezieht daraus ihre Rechtfertigung - die sie ganz eng an die scheinbar einzige Wahrheit bindet. Aus diesem Buch aber kommt ein Zittern des so wunderbar verfänglich Offenen. Das sich im dialogischen Denken zum Einzigen formt, das dieses Leben hält: zur Feier der Fantasie.

Durs Grünbein, Aris Fioretos: Verabredungen. Gespräche und Gegensätze über Jahrzehnte. Suhrkamp. 252 S., 40 Abb., geb., 28 €.

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