Der Mitbestimmung entkommen

FU-Forscher Michael Fichter über erschwerte Gewerkschaftsarbeit im US-Werk von VW

  • Carsten Hübner
  • Lesedauer: 4 Min.
Dr. Michael Fichter (Jg. 1946) war von 1973 bis 2011 wissenschaftlicher Angestellter am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin mit dem Schwerpunkt Arbeitsbeziehungen in Deutschland und Europa tätig. Für die Arbeitsstelle Gewerkschaftspolitik der FU betreut er bis heute das Forschungsprojekt »Globalisierung der Arbeitsbeziehungen«. Außerdem unterrichtet er an der Global Labour University in Deutschland junge Gewerkschafter aus allen Teilen der Welt.

Von kommendem Mittwoch bis Freitag stimmen die Arbeiter im VW-Werk in Chattanooga (US-Bundesstaat Tennessee) darüber ab, ob sie künftig von der Automobilarbeitergewerkschaft UAW vertreten werden wollen. Dies sorgt in den USA landesweit für Wellen. Warum ist das so ein Politikum?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Seit vielen Jahren werden die Gewerkschaften massiv bekämpft. Heute sind weniger als zehn Prozent der Beschäftigten in der Privatwirtschaft gewerkschaftlich organisiert. Nun hat die UAW gute Chancen, die Abstimmung zu gewinnen und die Beschäftigten bei VW zu vertreten. Zudem geht es um den Süden der USA, wo die Politik Investoren mit der Aussicht auf eine »gewerkschaftsfreie Zone« gelockt hat. VW hat seinen Betrieb in Tennessee gebaut, wo der Gouverneur und einer der Senatoren sich besonders stark gegen Gewerkschaften engagieren. Ferner geht es um einen ausländischen Autohersteller. Japanische und deutsche Hersteller haben ihre Betriebe in den Südstaaten aufgebaut und bislang ist es der UAW nicht gelungen, diese zu organisieren. Und schließlich hat die Befürwortung der UAW zur Einrichtung einer Art Betriebsrat für viel Aufmerksamkeit gesorgt, denn Betriebsräte gibt es in den USA nicht.

Konservative Gruppen und Journalisten vergleichen Gewerkschaften mit einem Krebsgeschwür. Ist das die übliche Form der Auseinandersetzung?
Das ist übel und auch typisch für die medialen Angriffe der Rechten gegen die Gewerkschaften. Die Wirkung solcher Hasstiraden sollte nicht unterschätzt werden. Aber viel schlimmer ist die Möglichkeit der Unternehmer, die Entscheidungsfreiheit der Beschäftigten in der Frage einer Gewerkschaftsvertretung durch ihr Recht auf freie Meinungsäußerung einzuschränken. Unternehmer können im Betrieb fast unbegrenzt gegen die Gewerkschaft wettern, während diese nur außerhalb des Betriebes die Beschäftigten werben kann.

UAW-Präsident Bob King will bei VW den ersten Betriebsrat nach deutschem Vorbild etablieren. Überhaupt hält er das europäische Mitbestimmungsmodell für vorbildlich. Was sollte sich generell ändern?
In den USA muss eine Gewerkschaft erst auf Betriebsebene durch eine Mehrheit anerkannt werden, bevor sie - wiederum auf der Betriebsebene - Kollektivverhandlungen führen darf. So ist die Konfrontation zwischen Gewerkschaft und Arbeitgeber unmittelbar und direkt. Diese und der »Häuserkampf« um die Betriebe machen heftige Konflikte sehr wahrscheinlich, zumal sich die Arbeitgeber die Ausgrenzung der Gewerkschaften auf ihre Fahne geschrieben haben. In dem Mitbestimmungsmodell sieht die UAW eine Möglichkeit, den Konflikt zu entschärfen und die starre antigewerkschaftliche Haltung der Arbeitgeber zu durchbrechen.

In den USA sind weitere deutsche Weltkonzerne wie Daimler, BMW, Siemens oder die Telekom tätig, die in Deutschland jahrzehntelange Erfahrungen mit Gewerkschaften und der Mitbestimmung haben. Warum sperren sie sich in den USA so?
Es sieht fast so aus, als ob sie alle froh sind, den Gewerkschaften und der Mitbestimmung in Deutschland entkommen zu sein. Aber die Gründe sind noch vielfältiger. Firmen wie VW, Daimler und BMW, die ihre Betriebe im Süden neu aufgebaut haben, passen sich dem politischen und wirtschaftlichen Klima dort an. US-Manager in diesen Betrieben haben ihren Beitrag dazu geleistet. Das deutsche Management ist nicht bereit, ihre deutsche Firmenkultur in den USA zu etablieren. Sie verschanzen sich hinter dem Argument, in den USA ist alles anders. Aber sie haben eben die Arbeiter nicht gefragt.

Steven Rattner, ein Wirtschaftsberater von US-Präsident Barack Obama während der Automobilkrise, beklagte kürzlich in der »New York Times«, dass sich die USA zu einem Niedriglohnland entwickelt hätten. Wie wichtig ist vor diesem Hintergrund die transatlantische Gewerkschaftszusammenarbeit?
Wenn die europäischen Unternehmen Erfolg mit dem Niedriglohnmodell in den USA haben, werden sie ermutigt werden, Konzessionen von den Gewerkschaften in Europa zu verlangen. Und es ist nicht auszuschließen, dass die laufenden Verhandlungen über ein transatlantisches Handels- und Investitionsabkommen Arbeitsstandards in Europa unterminieren könnten. Von daher gibt es keine Alternative zu einer verstärkten transatlantischen Gewerkschaftskooperation.

Interview: Carsten Hübner

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