nd-aktuell.de / 22.06.2006 / Kultur

Ungewohnte Seiten

Ein Kino-System namens Billy Wilder

Georg Seeßlen
Billy Wilder war ein begnadeter Erzähler von ironischen Anekdoten, und die meisten seiner Biografen folgten ihm darin. Man könnte auch sagen: Sie nahmen dankbar eine Maskerade an. Sie alle ahnten sehr wohl, dass die Filme dieses Regisseurs »Gift und Galle« enthalten, wie Hellmuth Karasek bemerkt, ohne indes hinzuzufügen, wem das beides galt und woher das womöglich kam. Aber sie sahen das Gift der Kritik in Entertainment, Komödie, Eleganz verpackt, und das war den meisten Anlass genug, sich danach vor allem mit Entertainment, Komödie und Eleganz dieses Meisters eines sehr schwarzen Bildes der kapitalistischen Gesellschaft zu beschäftigen. Vielleicht war das ja auch ein wohlfeiles Versöhnungsbild in unserer Filmgeschichte: Der jüdische Emigrant, der aus der K.u.K-Provinz über Wien nach Berlin kommt, in die Zeit von Hoffnung und Aufbruch zwischen den Kriegen, der nach Hollywood ging, der seine Familie in Auschwitz verlor, der im Paramount-Studio europäischen Esprit mit amerikanischem Erzähltempo verband, der Marilyn Monroe entdeckte, der Jack Lemmon zur komischen Ikone der Angestelltenkultur machte, der aber auch großen alten Stars wie Gloria Swanson, Erich von Stroheim oder James Cagney zu grandiosen Abschiedsvorstellungen verhalf, und der mit einem spöttisch-milden Lächeln nach Deutschland zurückkehrte, als charmanter Plauderer, der es nicht übel zu nehmen schien, wenn man nicht bemerkte, oder bemerken wollte, wie viel präzise Kritik in seinen ironischen Anekdoten steckte. Schön, wenn jemand einmal die andere Seite sieht. Den unbestechlichen analytischen Blick auf die verschiedenen Seiten der Industrie- und Angestelltengesellschaft. Auf den Journalismus wie in »Ace in the Hole« (Reporter des Satans) oder »The Front Page« (Extrablatt). Auf die sexuelle Ökonomie von Großraumbüro und Familienheim wie in »The Seven Yearitch« (Das verflixte 7. Jahr) oder »The Apartment« (Das Appartement). Auf das Showbusiness wie in »Sunset Boulevard« (Boulevard der Dämmerung) oder »Kiss me, Stupid« (Küß mich - Dummkopf). Auf Rollenspiel und Prostitution wie »Some Like it Hot« (Manche mögen's heiß) oder »Irma La Douce« (Das Mädchen Irma la Douce). Auf die Beziehung der amerikanischen Dynamik zur frivolen Lethargie des alten Europa wie in »The Emperor Waltz« (Ich küsse Ihre Hand, Madame) oder »Fedora«. Auf die Innenwelt von populären Mythen wie in »Some Like it Hot« oder »The Private Life of Sherlock Holmes« (Das Privatleben des Sherlock Holmes). Man kann sich durch zweieinhalb Meter Literatur zur Geschichte des Bürgertums in der Mitte des 20. Jahrhunderts fressen. Oder einfach alle Wilder-Filme sehen. Das letztere wäre vergnüglicher, möchte man auf den ersten Blick sagen. Aber dann muss man hinzufügen: Es tut auch mehr weh. Denn so genau, so direkt in einer Mischung aus Zärtlichkeit und Unnachsichtigkeit wie Billy Wilder ist auch der teilnehmendste Soziologe nicht. Billy Wilder drehte Filme über konkrete Menschen in konkreten Situationen. Paradoxerweise formten sich die beiden konkreten Elemente aber zu einer Abstraktion. Die Normen, die Strukturen, die Riten, die Phrasen: Es ist die Macht der Ökonomie, der Gewalt oder der Technik, die bei Billy Wilder sehr individuelle Menschen dazu zwingt, sich wie Automaten, wie Marionetten an den Fäden von Begierde und Unterdrückung zu verhalten. Das ist komisch. Und es ist zum Heulen. Nie wird Billy Wilder dabei sadistisch, seine Heldinnen und Helden sind Egoisten, Heuchler und Größenwahnsinnige, trotzdem leidet man mit ihnen. Und nie drehte er so etwas wie Propaganda. Auch wenn uns angesichts der Kerle, die sich das Hackenschlagen nicht abgewöhnen können und von nichts etwas gewusst haben - »Welcher Adolf?« - in »One, Two, Three« (Eins, zwei, drei) immer noch kalte Schauer über den Rücken laufen. Daniel Hermsdorf lädt in seinem Buch »Billy Wilder: Filme, Motive, Kontroverses« dazu ein, diese andere Seite des Regisseurs zu begutachten. Einen Regisseur, der nicht nur die Genres Thriller und Komödie dazu benutzte, ein kritisches Gesellschafts- und Zeitbild zu entwerfen, sondern einer, der auch skeptisch und distanziert gegenüber dem eigenen Medium blieb. Genauer angesehen - und Bücher wie dieses können einem beim Genauer Hinsehen gute Dienste leisten - enthält Billy Wilders Filmarbeit auch eine lebenslange Analyse von Kino-Geist und Traumfabrik. Es ist interessant, dem Autor bei seinen Streifzügen durch das Werk zu folgen, unter anderem auf den Spuren von wiederkehrenden Motiven - das (geschlechtliche und soziale) Rollenspiel, die Architektur der Parallelräume, der Ehebruch, weniger in der Form eines melodramatischen »Liebesverrates« als vielmehr eines bürgerlichen Vertragsbruchs, und schließlich der Tod, der in Billy Wilders Filmen eine so zentrale Rolle spielt wie sonst bei keinem Regisseur, den man dem »leichten Fach« der Komödie zuordnet. All das zusammengenommen gibt nicht nur eine faszinierende Lektüre einer verborgenen Sprache dieses Autors, sondern auch eine Verbindung von Filmkritik und Systemtheorie, die man durchaus auch andernorts nutzbar anwenden kann. Dabei eignet sich das Buch auch als Einführung, denn bevor Hermsdorf sich den einzelnen Motiven im filmischen System Billy Wilder zuwendet, stellt er jeden einzelnen seiner Filme vor. Unter vielem anderen erkennt man gute Filmregisseure daran, dass sie gute Filmtheorie provozieren. Oder Gesellschaftstheorie, was aber eigentlich kein Unterschied ist. Hermsdorf, Daniel: Billy Wilder. Filme - Motive - Kontroverses. Paragon-Verlag Bochum. 290 S., brosch. 18 EUR