Linker Theoretiker

Britischer Soziologe Stuart Hall gestorben

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Wie unbekannt, aber dennoch wichtig und bedeutend dieser Mann für die Gesellschaft war, dokumentiert eine kleine Randnotiz, die mehr als nur eine randständige Bemerkung ist. Am Montag (10. Februar) veröffentlichte spiegel-online einen lesenswerten Nachruf auf den am gleichen Tag verstorbenen britischen Soziologen Stuart Hall. Bislang (Stand Dienstagmittag) gab es dazu einen einzigen Leserkommentar. Es sei »eine letzte Pointe dieses großen Denkers, dass er sich zum Gehen den Tag nach der Abstimmung in der Schweiz ausgesucht hat«, heißt es dort.

Stuart Hall hätte zu der Schweizer Abstimmung gegen Einwanderung, vor allem aber zur populistischen Propaganda der Befürworter des Votums, sicherlich einiges sagen können. Auf der Suche nach Argumenten hätte er aus einem reichhaltigen Fundus schöpfen können. Ideologische Aussagen würden zwar von Individuen getroffen, »aber Ideologien entstammen nicht einem individuellen Bewusstsein (…) Vielmehr formulieren wir unsere Absichten innerhalb von Ideologien«, schrieb er vor bereits vor 33 Jahren in »Die Konstruktion von ›Rasse‹ in den Medien«.

Lange bevor in Westeuropa und in den USA eine öffentliche Debatte über den diskriminierenden Gebrauch von Wörtern, Begriffen, Zuschreibungen begann, setzte er sich mit der Frage auseinander, inwieweit Sprache das Bewusstsein von Individuen und von Gesellschaften prägt. Eine zentrale Bedeutung käme hierbei den Medien zu. Deren »Bilder, Beschreibungen, Erklärungen und Rahmen (erklären), wie die Welt aussieht und warum sie so funktioniert, wie sie dem Sagen und Zeigen nach funktioniert«. Medien, so Hall, sind »ideologische Apparate«, die in ihrer Praxis viel mit Alltagsbewusstsein arbeiten. Selbst der liberale TV-Moderator, der versuche, in seiner Talk-Sendung über die Kriminalität von Schwarzen die »Aussöhnung der Rassen« zu befördern, tappe dabei oft in die »Rassismusfalle«. »Jedes Wort und jedes Bild derartiger Sendungen ist von einem unbewussten Rassismus durchsetzt, denn sie fußen auf der ungenannten und unerkannten Annahme, dass die Schwarzen die Quelle des Problems sind«, argumentierte Hall 1981.

Wer sich heutzutage eine Sendung von Frank Plaßberg (»Hart aber fair«) über den Zuzug von rumänischen Roma nach Deutschland angeschaut hat, wird rasch feststellen, dass sich auch im deutschen TV in den vergangenen Jahrzehnten diesbezüglich nicht so viel geändert hat. Und auch die Abstimmung in der Schweiz über die Begrenzung von Einwanderung vom vergangenen Sonntag ist ein Beispiel dafür, wie prägend der Einfluss der Medienberichterstattung auf das Bild ist, das in der Gesellschaft über Fremde, Einwanderer, Flüchtlinge vorherrscht. Die Mehrheit der Medien in der Schweiz hat sich zwar nicht ausdrücklich für die Initiative der rechten SVP zum Stopp von »Masseneinwanderung« stark gemacht, das Forschungsinstitut »Media Tenor« hat allerdings errechnet, dass mehr als 80 Prozent aller Medienberichte, in denen Ausländer vorkamen, sich auf Asylrecht oder Einwanderungsfragen bezogen, meist in einem negativen Kontext. Über Krankenschwestern, Dienstleistungspersonal und Hochqualifizierte im Schweizer Berufsalltag hätten die Bürger so kaum etwas erfahren können.

Stuart Hall wurde am 3. Februar 1932 in Kingston (Jamaika) als Kind einer Mittelklassefamilie geboren. Seine Mutter hatte weiße Vorfahren, sein Vater war der erste Nichtweiße, der eine Führungsposition in einem US-amerikanischen Obsthandelskonzern innehatte. Durch ein Stipendium wurde ihm ein Studium an der Elite-Universität Oxford in Großbritannien ermöglicht. 1964 baute er an der Universität Birmingham das Centre for Contemporary Cultural Studies mit auf, dessen Direktor er von 1968 bis 1979 war. Anschließend wechselte er als Professor an die »Open University«, eine Fernuni ohne Aufnahmebeschränkungen, an der er bis zum Eintritt in seinen Ruhestand 1997 blieb.

Hall war Mitbegründer der Zeitschrift »New Left Review«, die in den 1970er Jahren über Alternativen für eine linke Politik jenseits des damaligen Staatssozialismus in den sogenannten Ostblockstaaten debattierte. Und er hatte schon vor der Wahl der konservativen Politikerin Margret Thatcher einen Begriff formuliert, der später wie kaum ein anderer das Konzept des »autoritären Populismus« charakterisierte, der mit einer vorgeblichen »Volksmeinung« argumentiert, um damit Bürger- sowie soziale und Freiheitsrechte abzubauen: »Thatcherismus«.

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