nd-aktuell.de / 14.02.2014 / Kultur / Seite 15

Dünnes Eis

Filme im Wettbewerb

Tobias Riegel

Schnee knirscht unter den Füßen der Protagonisten zweier Berlinale-Wettbewerbsfilme vom Mittwoch. Zwar völlig unterschiedlich in Machart, Handlung und Botschaft, haben Claudia Llosas Familiendrama »Aloft« und die chinesische Thrillergroteske »Black Coal, Thin Ice« von Diao Yinan doch gemeinsam, dass die winterlichen Elemente nicht nur äußerliche Widrigkeit bedeuten. Denn Zuschauer und Filmcharaktere wandeln hier zudem im übertragenen Sinne auf dünnem Eis: Das Fundament kann jederzeit wegbrechen.

In »Aloft« bricht jener Boden auch im wörtlichen Sinne weg. Die alleinerziehende Mutter Nana (Jennifer Connelly) lebt mit ihrem Vater und den zwei kleinen Söhnen Ivan und Gully im Norden Kanadas. Gully, das jüngere der Kinder, hat einen Tumor, weshalb Nana zu einem Wunderheiler pilgert. Der setzt ihr den Floh ins Ohr, sie sei selber mit magischen Kräften gesegnet. Als Gully im Eis einbricht und stirbt, verlässt Nana den traumatisierten Ivan, um fortan als kultisch verehrte Schamanin in der Nähe des Polarkreises zu wirken. 20 Jahre später macht sich Ivan (Cillian Murphy) mit einer Journalistin (Mélanie Laurent) auf den Weg, seine Mutter zu suchen - der führt etliche Kilometer über fragiles, gefrorenes Wasser.

Was sich aufgeschrieben arg konstruiert anhören mag, ist auf der Leinwand ein mysteriöser Trip, eine rätselhafte Abhandlung über (Selbst-)Heilungskräfte und die positive Macht des Verzeihens - und ein todtrauriges Familiendrama in kargen aber betörenden Bildern. Auf Musik wird fast komplett verzichtet, stattdessen entfalten der gnadenlose Wind und der Schnee unter den Füßen ihre volle akustische Wirkung.

Ja, das Werk von Llosa (Goldener Bär 2009) ist zum Teil höchst sentimental; ja, es ist nicht ausgemacht, dass eine gewisse Unentschiedenheit am Ende des Films tatsächlich in der Intention der Regisseurin lag. Dennoch entwickelt »Aloft« unabhängig von der merkwürdigen Handlung einen starken Sog. Aus dem französisch-US-amerikanisch-irischen Ensemble der spanisch-kanadisch-französischen Produktion sticht Jennifer Connelly (USA) als Nana heraus.

Zentrales äußeres Motiv ist auch bei »Black Coal, Thin Ice« aus der Volksrepublik China der Winter. Zudem spielen sich Schlüsselszenen auf einer öffentlichen Eisbahn ab und dienen die scharfen Kufen der Schlittschuhe mitunter als Mordinstrument. Denn der Film ist ein sehr eigenes, ja geradezu schrulliges Genrestück über mysteriöse Mordfälle, einen ramponierten Großstadtbullen und eine schweigsame Wäscherei-Arbeiterin. Eigenwillige Kamera-Einstellungen, zum Teil dadaistische Dialoge und urplötzliche Gewaltausbrüche formen einen ungewöhnlichen schwarzen Humor.