nd-aktuell.de / 14.02.2014 / Politik / Seite 2

Genossen, wo seid ihr geblieben?

Eine finnische Regisseurin reiste auf der Suche nach Absolventen der FDJ-Jugendhochschule um die Welt

Fabian Lambeck
Die Filmemacherin Kirsi Marie Liimatainen drehte einen Film über ihre Zeit an der FDJ-Jugendhochschule Bogensee. Weil sie dabei nicht die gängigen DDR-Klischees bedienen wollte, zogen sich MDR und RBB schon frühzeitig aus dem Projekt zurück. Nun sammelt die Künstlerin Spenden, um den Film trotzdem in die Kinos zu bringen.
Ihren Hausausweis hat Kirsi Marie Liimatainen behalten
Ihren Hausausweis hat Kirsi Marie Liimatainen behalten

In dem verwinkelten Ostberliner Hinterhofgebäude ist die Zeit stehen geblieben. Ein Gang über den Flur ist wie eine Reise zurück in die DDR. Der Fußbodenbelag, die Tapeten, der Geruch nach scharfen Reinigungsmitteln und die Narva-Neonröhren an der Decke: Das hier wirkt authentischer als so manches DDR-Museum. Selbst der mit Holzimitat ausgekleidete Fahrstuhl ist noch aus volkseigener Produktion. Das richtige Ambiente, um einen Film über DDR-Geschichte zu schneiden. In einem kleinen Raum im vierten Stock sitzt Regisseurin Kirsi Marie Liimatainen mit einer Mitarbeiterin und geht noch einmal das Archivmaterial und die Songs durch, mit denen der Film angereichert werden soll. »Der Streifen ist bald fertig«, hofft die blonde Mittvierzigerin.

Liimatainen hat die halbe Welt bereist, um ihre ehemaligen Kommilitonen wiederzufinden. Nichts besonderes, möchte man meinen. Doch in diesem Fall liegt die Sache anders. Denn die damals 20-Jährige kam 1988 in die DDR, um an der internationalen Jugendhochschule Bogensee Marxismus-Leninismus zu studieren. Damals in den 80ern war das nicht so ungewöhnlich, wie es heute klingen mag. Finnland war neutral, und das Ausbalancieren der Interessen von Ost und West galt als Staatsräson. Zudem begeisterten sich viele junge Finnen für linke Ideale. Es gab sogar eine Pionierorganisation, in der auch Liimatainen Mitglied war. »Als Pionier habe ich Geschichten gehört von Leuten, die in der DDR waren. Ich selbst bin als Kind nach Leningrad gefahren. Das war damals für uns Finnen ganz normal«.

Im Jahre 1988 wurde die damals 20-Jährige dann arbeitslos. Zwar hatte sie die Schule mit guten Noten beendet, doch es gab keine Jobs. Liimatainen engagierte sich politisch und wurde in ihrer Heimatstadt Tampere Hausbesetzerin. Schließlich bewarb sie sich auf einen Studienplatz in der DDR. Dort konnte man sich kostenlos in Marxismus-Leninismus schulen lassen. Es war die Zeit von Glasnost und Perestroika. Auch die finnische Linke hatte damals Hoffnung auf einen neuen Sozialismus. Dass Gorbatschows Reformen den Zusammenbruch des wirtschaftlich und moralisch angeschlagenen Realsozialismus nur beschleunigen würden, ahnte Liimatainen damals nicht. Und so flog sie im Sommer 1988 nach Berlin.

Von dort ging es zur FDJ-Jugendhochschule »Wilhelm Pieck«, die in der Nähe von Wandlitz am Bogensee lag. Im Jahre 1946 zur Ausbildung deutscher Kader gegründet, nahm die Schule später auch Studenten aus befreundeten Ländern auf. Seit den späten 60ern schulte man auch junge Menschen aus dem kapitalistischen Ausland. Der weitläufige Campus verfügte neben Hörsälen und Bettenhäusern auch über eine Sporthalle und ein Restaurant.

»Zwar lag die Hochschule etwas abgelegen im Wald, doch hermetisch abgeschlossen war die Anlage nicht. Niemand hat uns verboten, das Gelände zu verlassen«, erinnert sich die Regisseurin. Für die Studenten gab es einen Hausausweis. Der Besuch von Bekannten aus der DDR musste vorher angemeldet werden. Freunde hatte die junge Finnin schnell gefunden. Nicht nur an der Hochschule. Am Wochenende stürzte sie sich regelmäßig ins Ostberliner Nachtleben rund um die Schönhauser Allee, damals Treffpunkt der jungen, oppositionellen Szene. Viele ihrer Bekanntschaften machte sie in schwul-lesbischen Diskos. So wandelte sie zwischen zwei Welten.

»Vielen meiner neuen Freunde war diese Gesellschaft zu eng. Sie wollten gerne raus aus der DDR, sie wollten reisen und die Welt sehen.« Wenige konnten verstehen, warum die Finnin in die DDR gekommen war und freiwillig Lenin las. »Wir haben heftig diskutiert. Ich erzählte ihnen, wie ich als Kind aus einem kommunistischen Elternhaus von meinem Grundschulehrer schikaniert wurde.« Perspektivenwechsel auf Finnisch.

Oft ging sie in den Intershop, kaufte West-Schokolade und Zigaretten und tauschte diese später bei ihren Ost-Berliner Freunden gegen gleichartige Waren aus DDR-Produktion. Ob es sie nicht desillusioniert habe, dass viele DDR-Jugendliche offenbar nicht der Meinung waren, in der besten aller Gesellschaften zu leben? »Nein, nirgendwo ist es perfekt, und die Jugend ist überall unzufrieden.« Viele seien nicht gegen die DDR und den Sozialismus gewesen. Sie waren aber frustriert von diesem unehrlichen, verknöcherten Realsozialismus, in dem selbst eklatante Missstände und Fehler totgeschwiegen wurden. »Meine Freunde wollten eine andere, eine bessere DDR.«

Diese Widersprüche zwischen einem Staat, der von sich behauptete, den Sozialismus bereits verwirklicht zu haben und der Realität auf den Straßen, wurden auch in Bogensee diskutiert. Es waren nicht einmal die offensichtlichen Mängel, wie die Versorgungslage oder der teilweise desolate Zustand von Häusern und Straßen. »Was uns als junge Kommunisten viel mehr beschäftigte, waren Dinge wie die fehlende Reise- und Meinungsfreiheit, das Autoritäre und streng Hierarchische, diese generelle Überwachungsmentalität.« Man habe die Widersprüche vor sich selbst verteidigt, auch weil man an dem Traum von einer kommunistischen Gesellschaft festhalten wollte. »Wir sagten uns: Die Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen. Wir sind eben noch nicht da, wo wir sein wollen.«

An der Hochschule konnte man solche Probleme durchaus ansprechen. Es gab keine Redeverbote. Auch einige der nach Bogensee delegierten FDJ-Studenten diskutierten mit ihren Lehrern und Dozenten relativ offen. Gerade mit den kritischen Studenten habe sie lange diskutiert. Dabei entwickelten sich Freundschaften.

Was Bogensee vor allem auszeichnete, sei die internationale Atmosphäre gewesen. »Die Solidarität war einfach fantastisch, auch wenn die Verständigung nicht immer einfach war.« Die Studenten kamen aus aller Welt. Norweger, Dänen, Finnen, Südafrikaner vom ANC, Latinos aus Chile, Bolivien und Nicaragua. Auch junge Menschen aus Afghanistan, Australien, der Mongolei, dem Libanon und Jemen habe sie kennengelernt. Verkehrssprache war Englisch, doch nicht alle beherrschten die Sprache. So habe mancher buchstäblich mit Händen und Füßen diskutiert.

Die wichtigen Vorlesungen wurden auf Deutsch gehalten, für die bis zu 200 internationalen Studenten gab es Dolmetscher. Im Lektionsgebäude stand die beste Simultananlage der DDR mit 18 Fremdsprachenkabinen und 560 Sitzplätzen. Unterrichtsfächer waren Politische Ökonomie, marxistisch-leninistische Philosophie, Theorie und Praxis sowie Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung.

Ein typischer Tag an der Hochschule begann mit einem Frühstück in der Mensa. Danach gab es Vorlesungen in der jeweiligen Muttersprache, später dann gemeinsame Lehrveranstaltungen, an denen auch die FDJ-Studenten teilnahmen.

Nach Vorlesungsschluss trieb man Sport, engagierte sich in Singe- oder Theatergruppen. Abends traf man sich in der Bar namens »Trommel«. Dort wurde dann zünftig gefeiert. Im Sommer halfen die Hochschüler beim gemeinsamen Ernteeinsatz irgendwo auf dem Land. Im Frühjahr 1989 kam Post aus Finnland. Die Universität, an der sich Liimatainen beworben hatte, teilte ihr mit, dass man sie berücksichtigt habe.

Sie konnte nicht ahnen, dass die sozialistische DDR ihren letzten Frühling erleben sollte. Während Liimatainen sich zur Schauspielerin ausbilden ließ, implodierte der Ostblock. Die Idee des Kommunismus schien ein für alle mal diskreditiert. Die USA erklärten sich und ihren »Way of Life« zu Siegern und riefen gleichzeitig das Ende der Geschichte aus. Kirsi Marie Liimatainen machte 1993 ihren Abschluss an der Universität Tampere und arbeitete danach als Schauspielerin in Finnland. Immer wieder fragte sie sich, was aus den Schülern der FDJ-Hochschule und ihrem gemeinsamen Traum von einer besseren Welt geworden war.

»Seit 1998 trug ich die Idee mit mir herum, die ehemaligen Kommilitonen zu besuchen, und das Ganze in einem Dokumentarfilm zu verarbeiten. Doch es fehlte an Zeit und Geld.« Dann kam sie Bogensee auch wieder räumlich näher. Im Jahre 1999 ging sie nach Potsdam, um an der Filmhochschule »Konrad Wolf« Regie zu studieren. Im Anschluss drehte sie mit »Festung« einen viel beachteten Film und arbeitete für das finnische Fernsehen. 2006 begann sie mit den Recherchen für ihren Film über Bogensee.

Da es kein zentrales Archiv mit den Namen der ehemaligen Absolventen gab, gestaltete sich die Suche nach den Genossen äußerst schwierig. Zumal einige Studenten damals Decknamen trugen. Das sollte ihrem Schutz dienen. In einigen Staaten war es damals gefährlich, Kommunist zu sein.

»Die Leute vom südafrikanischen ANC etwa durften ihre Namen nicht verraten.« Kleine Fußnote: Als die DDR im November kollabierte, waren die südafrikanischen Genossen in Gefahr als Kommunisten erkannt zu werden. In einer Nacht-und Nebel-Aktion brachte man sie nach Westdeutschland, von wo aus sie - jeglicher kommunistischer Umtriebe unverdächtig - in die Heimat reisen konnten.

Man tauschte damals keine Adressen, machte selten Fotos. Deshalb dauerte es lange, die Menschen wieder ausfindig zu machen. Einige blieben verschwunden. Andere wiederum wollten vor der Kamera nicht über ihre Zeit in der DDR reden. Vielen Finnen war es unangenehm, an ihre »Jugendsünden« erinnert zu werden. Das gesellschaftliche Klima hatte sich verändert. Die finnischen Medien hatten nach 1989 ausführlich über Stasi, Mauer und den Unrechtsstaat DDR berichtet. Viele fürchteten deshalb, im Nachhinein als Unterstützer oder Sympathisanten einer kommunistischen Diktatur dazustehen.

Liimatainen fand Geldgeber für ihr Projekt: Neben dem finnischen Fernsehen, war die DEFA-Stiftung im Boot. Auch die beiden ostdeutschen Fernsehanstalten MDR und RBB zeigten Interesse an dem Film. So machte sie sich auf zu ihren ehemaligen Genossen. Bereiste Nicaragua, Südafrika, Chile und den Libanon. »Nur wenige der ehemaligen Bogenseeschüler sind heute noch in Parteien aktiv. Viele sind enttäuscht und würden sich gerne einbringen, doch fühlen sie sich in keiner politischen Kraft wieder«, resümiert Liimatainen. Die meisten erinnern sich gern an Bogensee. »Dadurch, dass dort so viele junge Menschen aus aller Welt waren, die alle an den Kommunismus glaubten, merkte man, wie groß und global die Bewegung war.« Der Siegeszug des Neoliberalismus hat viele desillusioniert. Ein chilenischer Genosse meinte resigniert: »Anstatt für ihre Rechte zu kämpfen, machen die armen Familien heute ihre Sonntagsspaziergänge in den glitzernden Einkaufszentren. Gegen diesen Konsumgott kommen wir nicht mehr an.«

In Südafrika waren einige der Genossen auch gewaltsam zu Tode gekommen. Die näheren Umstände blieben ungeklärt. Dafür war ANC-Legende Dennis Goldberg zu einem Gespräch bereit. Im Libanon interviewte sie Drusenführer Walid Dschumblat, seines Zeichens Vorsitzender der Sozialistischen Fortschrittspartei. Für die Philippinen und Vietnam reichte das Geld dann nicht mehr.

Zudem kam ein weiterer Kostentreiber hinzu, den Liimatainen gar nicht auf dem Schirm hatte. Ausgerechnet die linken Protestsongs und Hymnen, die man in Bogensee zusammen geschmettert hatte und die den Film musikalisch untermalen sollten, entpuppten sich nun als besonders teuer.

Etwa »El pueblo unido«, das wohl bekannteste Lied aus der Ära Allende in Chile. Nach dem Putsch gegen den sozialistischen Präsidenten im September 1973 wurde der Song zu einem Symbol des Widerstands. »Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden«, heißt es im Refrain. Wer so wie Liimatainen »El pueblo unido« verwenden will, muss dafür 10 000 Dollar pro Minute zahlen. »Beinahe alle politischen Lieder sind heute kostenpflichtig«, so die Regisseurin. Ebenso wie die ehemaligen DDR-Filmaufnahmen. Die Firma Progress ist heute Rechteinhaberin des Filmmaterials. Laut eigener Homepage ist der Verleih der »exklusive, weltweite, kommerzielle Auswerter des kompletten DEFA-Kinofilmstocks der DDR«. Pikanterweise gehört Progress heute zu Tellux, einer Beteiligungsgesellschaft katholischer Bistümer. Das ehemalige Volkseigentum ist heute also in der Hand der Kirche.

Dass aus dem Film letztendlich eine Low-Budget-Produktion wurde, ist auch dem merkwürdigen Gebaren von MDR und RBB geschuldet. »Beide Sender führten mit uns ausgedehnte Vorgespräche und ließen mich - ohne Bezahlung - das Konzept immer wieder umschreiben.« So zog sich die Drehbuchentwicklung über zwei Jahre hin. Eine ungewöhnlich lange Zeitspanne für einen Dokumentarfilm. »Es zeigte sich, dass die beiden Sender einen ganz anderen Film wollten.« Oft ging es um einzelne Formulierungen und Definitionen. Wörter wie »Kommunist« oder »kommunistisch« mussten durch weniger politisch belastete Begriffe wie »Arbeiterbewegung« ersetzt werden. Liimatainen war bereit, Veränderungen vorzunehmen, um ihren Film zu retten. Doch es gab Grenzen. »Ich konnte die wichtigen Informationen nicht unter den Tisch fallen lassen. Etwa dass ich aus einer Arbeiterfamilie stamme und bei den finnischen Pionieren war. Es wäre ja eine Lüge gewesen, das zu verschweigen.« Beim deutschen Fernsehen wollte man die Sache in eine politisch genehme Richtung lenken und die üblichen DDR-Klischees bedienen.

Die endgültige Absage kam 2009. Auslöser war der Streit um einem Satz, den die Dramaturgin vom Fernsehen streichen wollte. »Die Gewinner schreiben die Geschichte immer wieder neu«, hatte ein Interviewpartner gemeint. So viel Meinungsfreiheit wollten sich MDR und RBB dann doch nicht leisten. »Wir entschieden uns, den Film trotzdem zu machen.«

Ohne das Geld der Öffentlich-Rechtlichen musste an allen Ecken gespart werden. Vor allem an den eigenen Gagen. Die meisten Mitarbeiter verzichteten auf eine Bezahlung. Trotzdem sitzt Liimatainen auf Schulden. Über das Spendenportal Startnext will sie bis zum 1. März 11 000 Euro einsammeln, um den Film fertig zu stellen. Das könnte klappen. Derzeit liegt man bei 9650 Euro. Die aber wieder verloren sein könnten. Bei Startnext gilt: Wenn die angegebene Zielsumme nicht erreicht wird, geht das Geld zurück an die Spender. Unterstützt wird sie bei der Aktion vom Freundeskreis der Jugendhochschule »Wilhelm Pieck«, einer seit 2007 existierenden Vereinigung von ehemaligen Absolventen, Angestellten und Lehrern.

Liimatainen will ihren Film unter dem Titel »Comrade, where are you today?« demnächst auf einem Festival in Deutschland präsentieren. Welches das sein wird, ist bislang noch unklar. Danach soll der Streifen in den Kinos laufen. Einen deutschen Verleih gibt es bereits. Auch das finnische Fernsehen will den Film zeigen. »Schade nur, dass er im deutschen TV wohl nicht gezeigt wird«, bedauert Liimatainen.

Spenden für den Film unter: www.startnext.de/comrade. Die Aktion läuft noch bis zum 1. März. Weitere Infos unter www.ilangafilms.com und www.facebook.com/comrade.film

So präsentierte sich die FDJ-Jugendhochschule »Wilhelm Pieck« der damals 20-jährigen Kirsi Marie Liimatainen.
So präsentierte sich die FDJ-Jugendhochschule »Wilhelm Pieck« der damals 20-jährigen Kirsi Marie Liimatainen.