nd-aktuell.de / 15.02.2014 / Politik / Seite 1

Es geht um Politikfähigkeit

Bernd Riexinger warnt vor vulgärmarxistischem Begriffestreit und glaubt an die Vernunft von Parteitagen

nd: Der Parteivorstand hat in seiner letzten Sitzung den Leitantrag zum Parteitag geändert, weil seine Präambel Streit verursachte. Zugleich gibt es einen noch verbliebenen Änderungsantrag, der konsensfähig sein dürfte. Wozu musste die Präambel in einem Kraftakt noch geändert werden, wenn sie vielleicht ohnehin im Papierkorb landet?
Riexinger: Der Vorstand hielt es mehrheitlich für besser, wenn sein Präambel-Vorschlag ohne die umstrittenen Formulierungen beraten wird. Es ging um eine Klarstellung. Der umstrittene Abschnitt hat die Partei polarisiert und die Debatten zugleich verkürzt. Die LINKE vertritt europapolitische Positionen, die die Menschen viel mehr interessieren als ein oder zwei Sätze in der Präambel. Diese Positionen sollen wieder in den Vordergrund rücken.

Man könnte auch sagen, der Vorstand hat den Schwanz eingezogen.
So sollte man das nicht missverstehen. Der Satz, um den sich der Streit drehte, war einfach falsch.

Sie meinen den Satz, dass die EU neoliberal, militaristisch und weithin undemokratisch ist?
Ja, den. Die Partei ist geschlossen der Meinung, dass es eine neoliberale Hegemonie gibt in der Europapolitik. Sie ist geschlossen der Meinung, dass es ein Demokratiedefizit gibt, dass nichtgewählte Kommissionen entscheiden und das Europaparlament zu wenig Befugnisse hat. Und sie ist auch der Meinung, dass es eine Militarisierung gibt. Aber der Satz war im Umfeld der anderen Sätze falsch, die da standen. Etwa dass die EU eine der größten Krisen der letzten hundert Jahre mitverursacht hat. Nicht die EU macht die Krisen, sondern Krisen entstehen durch Widersprüche im Kapitalismus, und die EU kann diese Krisen verstärken oder sie kann zur Bewältigung beitragen. Nicht die »Raubzüge der Banken« oder die »Gier der Rüstungsindustrie« sind die Krisenursachen. Wir sollten statt solcher vulgär-marxistischer Begriffe die systemischen Ursachen benennen und damit unsere Politikfähigkeit beweisen.

War es ein Fehler, sich auf eine wochenlange Diskussion über zwei Präambel-Sätze einzulassen, statt über die inhaltlichen Positionen zu reden, die Sie anführen?
Eindeutig ja. Und wir sollten endlich lernen, dass immer, wenn wir uns in polarisierenden Debatten über sehr grundsätzliche Wahrheiten verbeißen, unsere Politikfähigkeit leidet. Anstatt uns auf unsere Vorschläge für eine andere Politik zu konzentrieren, über die wir zu 90 Prozent einig sind, wird eine Differenz über die restlichen zehn Prozent in den Vordergrund gestellt.

Ist die EU von links veränderbar?
Ja, sie muss. Wir haben es in Europa mit einer hohen Kapitalverflechtung zu tun. Die EU ist heute in erster Linie ein Wettbewerbsraum, der mit anderen Wettbewerbs räumen in Konkurrenz steht. Die politischen Institutionen folgen der Ökonomie. Die LINKE muss sich darauf beziehen und muss politische Vorschläge unterbreiten, die alternativ sind zum herrschenden Politikangebot. Alles andere wäre naiv. Dazu gehört natürlichauch, dass wir die Verhältnisse in Deutschland andern, dem größten Land in der EU.

Sie müssen dabei über Wahlen durchdringen. Aber wie viel Interesse für Europa gibt es in der Wählerschaft der LINKEN? Ist es nicht die Ablehnung, die dominiert?
Mich haben die Umfragen in der letzten Zeit positiv überrascht, die zeigen, wie interessiert unsere Mitglieder und Wähler an diesem Thema offensichtlich sind. Das liegt sicher an der hohen Übereinstimmung unserer Forderungen mit denen unserer Wählerschaft. Also etwa nach einer Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums in Europa, damit nicht Rentner, Beschäftigte und Erwerbslose die Kosten der Krise bezahlen, sondern Einkommensmillionäre und Krisengewinner.

Und EU-Europa wird bejaht?
Es gibt die Ablehnung der bestehenden Verträge wie Lissabon oder Maastricht, die die genannte neoliberale Hegemonie ausdrücken. Aber es herrscht Übereinstimmung, dass wir die Linke in Europa stärken müssen. Wir haben bei der Wahl im Mai die große Chance dazu. Alle Umfragen signalisieren, dass die europäische Linke ihre Sitze annähernd verdoppeln könnte und dadurch doch die Linke auch ein wahrnehmbares Sprachrohr für soziale und demokratische Politik in Europa wird. Zugleich muss die außerparlamentarischen Bewegungen durch linke Politik gestärkt werden. Die Generalstreiks gegen die Troika-Politik, Blockupy, die vielen Bewegungen für öffentliche Daseinsvorsorge wie etwa die erfolgreiche europäische Initiative gegen Privatisierung des Wassers haben die Menschen motiviert.

Einheitliche Aktionen der Linken in Europa – wie realistisch ist das?
Zentrales Thema ist eine europäische Vermögensabgabe. Ich glaube, dass die europäische Linke sich darauf verständigen wird. Auch in der Frage der Bankenregulierung und wie wir den Schulden umgehen, kommen wir zu einer gemeinsamen Sprache und zu konkreten Initiativen. Bekanntlich ist der Fortschritt eine Schnecke, aber es bewegt sich.

Welche Rolle spielt denn die Fraktion der Linken im Europaparlament? Zuweilen kann man ja auch den Eindruck haben, dass es sich dabei um so eine Art Satellit handelt, der kurz vor und kurz nach den Europawahlen interessant wird, aber dazwischen ein Eigenleben hat, das mit der praktischen Politik der Linkspartei vor Ort, in den Parlamenten nicht viel zu tun hat?
Diese Rückkopplung ist eben das Problem. Es gibt aber gute Beispiele, wie den Kampf um die Wasserprivatisierung oder die Auseinandersetzungen um die Standards des Bodenpersonals auf Flughäfen. Das waren Themen, die auch für die Gewerkschaften wichtig waren, deshalb gelang die Verzahnung mit der parlamentarischen Arbeit besser. Solche Felder müssen wir suchen. Und da gibt es ja viele: die Privatisierungen öffentlicher Einrichtungen, wo die EU Privatisierungstreiber ist – unter dem Einfluss von Lobbyverbänden und Arbeitgebern. Das ist eine Aufgabe der europäischen Linken insgesamt, die politikfähiger werden muss.

Zuvor muss es in Hamburg Einigungen geben. Die Kandidatenliste zur Europawahl scheint eher Anlass für Unversöhnlichkeiten zu sein.
Ich bin optimistisch, dass die Delegierten für eine ausgewogene Liste sorgen werden.

Der Bundesausschuss hatte einen Personalvorschlag gemacht, der aber keinen Bestand haben wird. Die ostdeutschen Landesvorsitzenden haben eine eigene Liste vereinbart, und die Mehrheitsverhältnisse in Hamburg sind zu ihren Gunsten. War der Vorschlag nicht ausgewogen genug?
Die Beratung hat in einer ziemlich polarisierenden Stimmung stattgefunden. So etwas ist meistens nicht gut für das Ergebnis.


Wenn Gregor Gysi und die Vorsitzenden der Ost-Landesverbände eine Liste ihrer Lieblingskandidaten vereinbaren und damit die Liste des Bundesausschusses in Frage stellen, ist das kein Misstrauensvotum?
Dass sich verschiedene Zusammenhänge in der Partei Gedanken über die Listen machen, ist doch völlig normal. Die Strömungen verständigen sich, die Ostlandesverbände verständigen sich, die Westlandesverbände haben Telefonkonferenzen geführt. Entscheidend wird sein, ob es ihnen gelingt, auf dem Parteitag zu einer Verständigung zu kommen und dass wir am Ende den Konsens über eine Liste haben, keine Sieger und Besiegte.

Hat der Bundesausschuss ein Akzeptanzproblem?
Der Bundesausschuss ist ein historisch gewachsenes Gremium. Die Aufstellung der Kandidatenliste ist eine Aufgabe, die ihm satzungsmäßig zukommt.

Die Linkspartei neigt dazu, aus Personalfragen immer große Konflikte zu machen? Warum?
Das hat sicher mit ihrer Geschichte zu tun. Und mit ihrem Anspruch, eine linkspluralistische Partei zu sein. Es ist ein sehr mühsames Unterfangen, die verschiedenen Traditionslinien und verschiedenen politische Richtungen zusammenzuführen. Ich glaube aber, dass wir dabei erheblich weitergekommen sind. Die LINKE hat auf Parteitagen die Erfahrung gemacht, dass die Delegierten durchaus in der Lage sind, Kompromisse zu finden. Wie andere Parteien auch. Den Grünen hat schließlich auch nicht geschadet, dass auf ihrem Europaparteitag bereits auf Platz eins eine Polarisierung stattfand – der Parteitag konnte das lösen. Wir werden da hinkommen, dass offene Wahlen trotz Traditionslinien, -strömungen, Ost und West völlig normal sind. Aber vielleicht dauert es noch ein, zwei Jahre. Im Westen haben wir inzwischen eine Mehrheit an Mitgliedern, die nicht mehr in der PDS oder der WASG waren, sondern neu in die LINKE eingetreten sind. Da gibt es schon ein anderes Herangehen.

In dem Zusammenhang ist immer wieder vom Zentrum der Partei die Rede. Was ist das und wer gehört dazu?
Dazu gehören alle, denen das Gesamtinteresse der Partei wichtiger ist als die Interessen von Teilen der Partei. Dem Zentrum geht es um die Entwicklung der gesamten Partei, um ihre Politikfähigkeit. Das ist eine Definition nicht allein für ihre Führungsebene und die Vorstände. Die Partei ist ein Gebilde mit Basisorganisationen, Orstverbänden, Kreisverbänden, Landesverbänden. Der Konsens an der Basis ist viel größer, als das beim Blick auf die klassischen Interessen-Zuordnungen scheint. Ich glaube, diese Basis wird sich in den nächsten Jahren auch stärker zu Wort melden. Und das ist ja ohnehin das Ziel jetzt der aktuellen Führung, dass wir unsere Basisstrukturen ausbauen müssen.
Im Osten eine Volkspartei, ist für die LINKE im Westen die Fünfprozenthürde noch immer ein Problem.

Die westlichen Landesverbände haben ja auch keine ganz einfachen Bedingungen. Wir haben in Sachsen 1300 Kommunalmandate und in Baden-Württemberg 80. Doch dass wir in Hessen wieder in den Landtag gewählt wurden, dass die Kommunalwahlen mit großer Gründlichkeit vorbereitet werden, das stimmt mich optimistisch. In diesem Jahr stehen elf Kommunalwahlen bevor. Die Gelegenheit gilt es zu nutzen. Wir müssen die Verankerung der Partei in den Gemeinden vertiefen. Im November letzten Jahres haben Katja Kipping und ich einen Vorschlag zum Parteiaufbau unterbreitet, der in den Landesverbänden mit großem Interesse aufgenommen wurde. Die Partei von unten aufzubauen heißt, sie in den Gewerkschaften, in den Bürgerinitiativen und in den sozialen Bewegungen zu verankern. Das ist eine zentrale Aufgabe.

Wie weit ist die LINKE gekommen beim Aufbau ihrer Westverbände?
Im letzten Jahr ist es uns zum ersten Mal seit vier Jahren gelungen, den negativen Mitgliedertrend zu stoppen und in eine leicht positive Entwicklung zu kehren. Diese Entwicklung hält auch bisher im neuen Jahr an. An der Listenaufstellung für die Kommunalwahlen ist bereits zu erkennen, dass wir in mehr Kreisen antreten als bisher. Aber wir dürfen auch die strukturellen Probleme beim Parteiaufbau im Osten nicht übersehen.

Wegen der Überalterung der Mitgliedschaft?
Dieses Wort benutze ich nicht gern. Schließlich sind gerade ältere Mitglieder besonders engagiert.
Aber wir müssen deutlich mehr Jüngere für die Partei interessieren. Wir haben dort durchaus Chancen auf gute Wahlergebnisse bei den Landtagswahlen, aber zum Teil Probleme, die Listen vollzukriegen. Also auch dort spielt der Parteiaufbau eine wirkliche Rolle in der Debatte.

Parteien spielen als Form der politischen Beteiligung für viele Menschen eine weniger wichtige Rolle. Stellt sich für die Linkspartei auch die Frage, was man eigentlich als Organisation darstellen will, ob man eher Mitgliederpartei oder Ratgeberpartei sein will?
In unserem Papier gehen wir von der LINKEN als Mitgliederpartei aus. Natürlich müssen wir auch bei Wahlen erfolgreich sein und in der Lage, Wahlkampagnen zu organisieren. Aber die LINKE definiert sich nicht nur parlamentarisch. Wir streben Gesellschaftsveränderungen an, wollen Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft verändern. Das kann nur eine Mitgliederpartei leisten.

Kräfteverhältnisse, Hegemonie... Zur Zeit scheint Antonio Gramsci in der Linkspartei eine Renaissance zu erleben.
Es gibt ja auch andere Parteitheoretiker, auf die man sich da beziehen kann: Rosa Luxemburg, für die ja immer die Emanzipation der Menschen und die eigenständige Bewegung der Menschen eine ganz hohe Bedeutung gehabt hat. Aber Parteien wie Gramcsi als sozial-kulturellen Lebenszusammenhang zu betrachten, ist sicher richtig. Menschen treten in Parteien ein, um dort einen Teil ihres Lebens zu verbringen. Indem diese den Zugang zu politischer Theorie erleichtern oder die Fähigkeit gesellschaftliche Zusammenhänge zu begreifen, werden sie attraktiv für Menschen. Das scheint mir ein ganz wichtiger Bestandteil bewusster Parteientwicklung zu sein.

Auf dem Hamburger Parteitag wird Olaf Scholz als Regierender Bürgermeister kein Grußwort halten. Auch kein anderer Vertreter der regierenden SPD. Was sagen Sie?
Es ist schon ein merkwürdiger Bruch mit den üblichen Regeln. Sogar der Bügermeister von Goslar, der Mitglied der CSU ist, hielt auf dem niedersächsischen Landesparteitag sein Grußwort. Er wies auf die großen Differenzen in der Programmatik unserer Parteien hin und teilte dann mit, dass er sich mit den Linken im Stadtrat eigentlich ganz gut verstehe. Olaf Scholz scheint von so viel Souveränität noch weit entfernt zu sein.

Das Gespräch führten Uwe Kalbe und Tom Strohschneider