Ein Prometheus unter den Denkern

Notizen von der Internationalen Fichte-Konferenz in Berlin zum 200. Todestag des Philosophen Johann Gottlieb Fichte

  • Hans-Christoph Rauh
  • Lesedauer: 4 Min.

Hemmt man den Fortgang des menschlichen Geistes, so sind nur zwei Fälle möglich: der erstere, unwahrscheinlichere - wir bleiben stehen, wo wir waren, wir geben alle Ansprüche auf Verminderung unseres Elendes und Erhöhung unserer Glückseligkeit auf, wir lassen uns Grenzen setzen, über die wir nicht schreiten wollen; oder der zweite, weit wahrscheinlichere: der zurückgehaltene Gang der Natur bricht gewaltsam durch und vernichtet alles, was ihm im Wege steht, die Menschheit rächt sich auf das Grausamste an ihren Unterdrückern, Revolutionen werden notwendig …» So die Mahnung von Johann Gottlieb Fichte.

Als jakobinischer «Revolutions-Philosoph» und «Philosoph der Freiheit» war er von den DDR-Philosophen Dieter Bergner und Manfred Buhr gewürdigt worden. Das gilt ebenso für seine berühmten «Reden an die deutsche Nation» im Vorfeld der antinapoleonischen Befreiungskriege und den Atheismusstreit, der Fichte 1799 den Verlust seiner Professur und Vertreibung aus Jena einbrachte (dokumentiert von Werner Röhr). Doch darauf allein ist sein philosophisches Denken nicht zu reduzieren. Indes, wie andere «vormarxistische» Denker wurde auch Fichte in der DDR pauschal abwertend als subjektiv-idealistisch denunziert.

Einfachste bäuerlich-handwerkliche Herkunft und ein abgebrochenes, weil nicht mehr bezahlbares Theologie- und Jurastudium hatten den philosophischen Autodidakten nicht daran gehindert, zum wichtigsten eigenständig denkenden vernunftskritischen «Kantianer» seiner Zeit und Gründungsrektor« der Berliner Universität zu werden. Er trat vorzeitig zurück. Wegen der studentischen Orden und Kooperationen, die handgreiflich randalierten und sich duellierten, statt zu studieren.

In einer kleinen Feierstunde im Senatssaal der Humboldt-Universität Berlin wurde Fichte völlig zurecht mit dem (vorgesungenen) Goethe-Gedicht »Prometheus« gedacht. Denn sein Philosophieren bedeutete die Aufhebung eines jeden begriffs- und gedankenlosen »Determinismus in Natur und Gesellschaft«. Ihn nun endlich »ganzheitlich« zu bedenken, war das Anliegen einer dreitägigen universitären Fachtagung, veranstaltet - anlässlich seines 200. Todestages, der sich am 29. Januar jährte, vom Lehrstuhl für Klassische Deutsche Philosophie der Berliner Alma mater sowie der Internationalen Fichte-Gesellschaft. Das Motto lautete: »Mit Fichte philosophieren. Perspektiven seiner Philosophie heute«.

Einleitend wurde (neumodisch mit Anglizismen) gefragt: »Fichte - Dead or Alive«? Keine Frage: Er sollte wieder zum Leben erweckt werden. Und so diente denn auch nicht der Vergewisserung, dass er tot ist, der zum Programm gehörende beschauliche Spaziergang zu dessen Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, das sich neben dem von Hegel, seinem Nachfolger auf dem Lehrstuhl in Berlin, befindet. Beide so bedeutenden universitären Berliner Philosophielehrer, zu deren Hörern zeitgenössische Minister und Künstler zählten, wurde zeitlebens nicht die Ehre zuteil, in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen zu werden. Der Theologe Schleiermacher und der Literat Jacobi vor allem wussten dies zu verhindern. So gelangte Fichtes philosophischer Nachlass schließlich in die Bayerische Akademie der Wissenschaften nach München, die mit dessen Veröffentlichung 1962 zum 200. Geburtstag begann, vollendet nun zum 200. Todestag.

Die über vierzig Bände umfassende Gesamtausgabe ermöglichte einen sehr viel vollständigeren Blick auf den »ganzen Fichte«, was sinnvoll natürlich nur gelingt, wenn er zugleich differenziert und widersprüchlich, sowohl als praktisch-politischer wie auch theoretisch-transzendentaler Fichte zusammengedacht wird. Entgegen früherem nationalistischen (so 1914, zum 100. Todestag) und anschließend nationalsozialistischen Missbrauch gilt Fichte nun als »Denker von europäischem Format«, werden seine Revolutionsschriften wie seine Wissenschaftslehre gewürdigt.

Erfreuliche Beobachtung während der Tagung: Es hat ein Generationswechsel in der deutschen Philosophie stattgefunden. Es gibt keine staatsparteiamtliche Würdigung mehr, ebenso keine abgehobenen Akademiker, die belehrend auf ihre unlesbaren Bücher verweisen. Es wurde ernsthaft und sachbezogen debattiert und argumentiert. Fichte hätte das in jeder Hinsicht gefallen, auf diese Weise lebendig zu bleiben. Sagte er doch einmal selbst über sein philosophisches Tun: »Was für eine Philosophie man wähle, hängt ganz davon ab, was man für ein Mensch ist: denn ein philosophisches System ist nicht ein toter Hausrat, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen« - der philosophiert. Foto: nd/Archiv

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