In der Welt der digitalen Eingeborenen

Computerspiele schaffen mit Leichtigkeit etwas, das Pädagogen oft nur schwer gelingt - bei Kindern und Jugendlichen Begeisterung für eine Sache zu wecken. Von Jürgen Amendt

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 5 Min.
Computer- und Konsolenspiele gehören heute zum Alltag vieler Jugendlicher. Konsumiert werden dabei nicht nur harmlose Strategiespiele, sondern auch gewalthaltige Ego-Shooter – selbst von Minderjährigen. In den Medien genießen solche Spiele – wie Computer- oder Konsolenspiele überhaupt – keinen besonders guten Ruf. Sie werden für soziale Verwahrlosung und Bildungsverfall verantwortlich gemacht. Manche Medienpädagogen halten das allerdings für Alarmismus. Computerspiele können für das Lernen genutzt werden, sagen sie – sogar Ballerspiele.

Anfang 2012 veröffentlichte die Universität Lünbeburg eine Studie zur Mediennutzung von Jugendlichen. Der Befund ist beeindruckend: 2011 benutzten bereits 98 Prozent der Zehn- bis 18-Jährigen das Internet. Die Jugendlichen entwickelten einen solch selbstverständlichen Umgang mit den neuen Medien, dass sie als »digitale Eingeborene« bezeichnet werden könnten, schlussfolgerten die Wissenschaftler.

Unproblematisch ist dies laut einer anderen Studie nicht. Florian Rehbein, Thomas Mößle und Matthias Kleimann vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) untersuchen dazu seit 2005 in einer Längsschnittstudie das Mediennutzungsverhalten von Kindern und Jugendlichen. Mittlerweile, so das Ergebnisweisen rund vier Prozent der Mädchen und 16 Prozent der Jungen ein exzessives Spielverhalten mit mehr als 4,5 Stunden täglicher Computerspielnutzung auf. Drei Prozent der Jungen und 0,3 Prozent der Mädchen werden vom KFN als computerspielabhängig eingestuft.

Mädchen sind also deutlich weniger von Computerspielsucht betroffen als Jungen. Der Berliner Medienpädagoge Christoph Thiel geht allerdings davon aus, dass die Unterschiede bei den Geschlechtern in Zukunft geringer werden. Zum einen gebe es heute Genres wie das Online-Spiel Sims, in dem die Spieler Städte aufbauen und deren Infrastruktur betreiben müssen, die auch für Mädchen attraktiv seien. Mit dem Durchbruch der sozialen Netzwerke im Internet habe zudem die Computernutzung von Mädchen deutlich zugenommen, so Thiel.

Eltern verunsichert das. Die häufigste Reaktion besteht darin, den Zeitraum, der den Kindern für die neuen Medien zur Verfügung gestellt wird, zu begrenzen. Beliebte Maßnahmen sind auch Regeln, die noch aus der Vor-Internet-Zeit stammen. Etwa die Vorgabe: Erst müssen die Hausaufgaben erledigt werden, dann dürfen die Kinder spielen. Christoph Thiel hält solche Regel im Bereich der neuen Medien für nicht mehr zeitgemäß. Man wisse mittlerweile, dass gerade PC- und Konsolen-Spiele, die zu einer hohen emotionalen Beteiligung führen, wie eine »Löschtaste im Gehirn« wirken. Das Glücksgefühl, das nach dem Bewältigen einer Herausforderung im Computerspiel eintritt, überlagert das vorher Gelernte. Verantwortlich dafür ist, so Thiel, eine Gehirnregion, die sowohl zuständig ist für das Zwischenspeichern von Informationen auf dem Weg vom Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis wie für die Verarbeitung von Gefühlen. Christoph Thiel empfiehlt, dass zwischen dem Erledigen der Hausarbeiten und dem Beginn des Spielens mindestens eine halbe Stunde Ruhezeit eingelegt wird. Spielefrei sollte auch die letzte halbe Stunde vor dem Schlafen gehen sein.

Eine radikalere Lösung favorisiert Christian Pfeiffer. Im Zentrum der Kritik des KFN-Direktors stehen nicht nur gewalthaltige Spiele wie der Ego-Shooter »Call of Duty« oder »Grand Theft Auto« (GTA); ihm sind ausdrücklich alle Spiele und alle Bildschirmmedien ein Dorn im Auge. Der FilmFernsehFonds (FFF) Bayern hingegen fördert auf Initiative der bayerischen Staatsregierung Computerspiele, die als kulturell und pädagogisch wertvoll eingestuft werden. Projekte, die »Brutalitäten in aufdringlich vergröbernder Form« darstellen, sind von einer Förderung ausdrücklich ausgenommen. Das sei im Kampf für die Aufklärung über die Gefahr von Computerspielen wenig hilfreich, kritisiert Pfeiffer. Das Geld sollte lieber in Musik- und Bewegungsprojekte an Schulen investiert werden, meint der Kriminologe. Wer zu viel Zeit vor dem Fernseher oder dem Computer verbringe, sacke in der Schule automatisch ab. Das sei mit ein Grund dafür, dass Jungen zunehmend zu den Verlierern des Bildungssystems gehörten, so Pfeiffer. Die Befunde des KFN sprächen eine eindeutige Sprache: Kinder, die bereits mit acht Jahren einen Fernseher, einen Computer und eine Spielekonsole ins Zimmer bekommen hätten, schnitten auch bei Schultests schlechter ab. Die Leistungsabstände zu jenen Kindern und Jugendlichen, in deren Kinderzimmern keine Bildschirmmedien stünden, würden zudem von Jahr zu Jahr größer.

Pfeiffers Schlussfolgerungen werden zwar von den Mitarbeitern seines Instituts, aber längst nicht von allen Fachleuten geteilt. Pädagogen wie Jens Wiemken versuchen, eine Symbiose zwischen Computerspiel und Bildungssystem herzustellen und beziehen hierbei sogar Gewalt-Spiele in ihre Arbeit mit ein. Vor einigen Jahren entwickelte Wiemken, der seit 1989 als Medienberater u.a. für Schulen tätig ist, das Projekt »Hardliner«. In dem 2009 mit dem Dieter-Backe-Preis der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur sowie des Bundesjugendministeriums ausgezeichneten Ansatz beabsichtigt Wiemken, Jugendliche zu einem verantwortungsvollen Umgang mit ihrem Alltagsmedium zu erziehen, indem er die gewalthaltigen Games in »Räuber-und-Gendarm-Manier« real nachspielen lässt - selbstverständlich ohne Einsatz wirklicher Gewalt. Seine These: Wenn Kinder und Jugendliche Gewalt-Games spielen, ist das nicht die Ursache von Aggression, sondern ein Symptom - ein Versuch, gesellschaftliche Gewaltprobleme zu verarbeiten.

»Computerspiele können Eigenschaften wie Teamfähigkeit oder interdisziplinäres Denken besser trainieren als dies der klassische Schulunterricht mit seinem 45-Minuten-Takt vermag«, ist sich Wiemken sicher. »In der Berufswelt ist eine Aufgabe heute auch nicht mehr nach einer vorher festgelegten Zeit abgeschlossen, sondern dann, wenn das Projektziel erreicht wurde.« Auf ähnliche Weise funktionierten Computerspiele, selbst die verpönten Ego-Shooter. Schulen und Lehrer sollten sich stärker als bisher auf die neuen Medien einlassen, meint der Medienberater, der u.a. die Landesmedienanstalt Niedersachsen in medienpädagogischen Fragen berät.

Der Ulmer Neurowissenschaftler Manfred Spitzer dagegen spricht sich für computerfreie Kinder- und Klassenzimmer aus. Seine These: Werden bei Kindern zu früh haptische durch digitale Erfahrungen ersetzt, hat dies negative Auswirkung beim Aufbau neuronaler Prozesse in den Gehirnen der Kinder. Durch dieses »instabile neurale Grundgerüst« seien später Lernprozesse nur noch eingeschränkt möglich.

Eine starre Begrenzung von Bildschirmzeiten oder Forderungen wie die Spitzers nach einer Verbannung von Computern aus Kinder- und Klassenzimmer seien wenig sinnvoll, sagt Wiemken. »Viele Empfehlungen atmeten noch den Geist der 1970er Jahre, als es maximal ein Bildschirmmedium pro Haushalt gab.« Im Zeitalter von Multimedia-Handys, iPads oder internetfähigen E-Books seien fixe Regeln nicht mehr praktikabel. Hinzu komme, so Wiemken, dass an vielen weiterführenden Schulen mittlerweile das Notebook zum persönlichen Arbeitsmittel der Schüler gehöre. Im Internet aber verwische die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit zusehends, betont Wiemken. »Schüler recherchieren für ein Referat und stoßen dabei auch auf Unterhaltungsangebote.« Für die völlige Freigabe der »Droge Bildschirm« ist er allerdings nicht. Für Kinder im Vorschul- und Grundschulalter sollte die tägliche Bildschirmzeit durchaus begrenzt werden. Auch für die »digitalen Eingeborenen« gelte: Sie sollten den Kontakt zur »analogen Welt« nicht ganz verlieren.

Manfred Spitzer: Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen, Verlag Droemer Knaur, München 2012, 368 S., 19,99 €; Medienpädagogik-Blog Jens Wiemken: www.byte42.de; Jugendmedienschutz und Medienerziehung: www.bundespruefstelle.de

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