Alles Timing?

Wettbewerb: »Boyhood« von Richard Linklater

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist ein Spiel mit der Zeit. Was wird anders, wenn wir älter werden? Das wenigste. Wir bleiben wir selbst, auch dann, wenn andere uns kaum noch mit dem in Verbindung bringen, was wir in ihren Augen einmal waren. Erst wachsen wir, dann kommt der Verfall, vom Tod hier noch gar nicht zu reden - und Regisseur Richard Linklater scheint nichts so sehr zu interessieren wie derartige Metamorphosen. Seine drei Filme über ein Liebespaar, von denen zuletzt »Before Sunset« ins Kino kam, drehte er über einen Zeitraum von fast zwanzig Jahren mit den gleichen Schauspielern, Julie Delpy und Ethan Hawke, anfangs jung verliebt, dann ein fast schon altes Ehepaar.

Kaum einer wusste, dass Linklater noch an einem zweiten Spielfilm-Langzeitprojekt arbeitet, wieder mit Ethan Hawke. Für seinen Film »Boyhood« ließ er sich wiederum Zeit: zwölf Jahre. Jedes Jahr drehte er ein Stückchen weiter. Es ist die Innenansicht einer fragilen Familie, die Mutter (Patricia Arquette) trennt sich anfangs gerade von ihrem anscheinend nie erwachsen werdenden Mann, den Ethan Hawke spielt, Vater der beiden Kinder Mason (Ellar Coltrate) und seiner Schwester (Lorelei Linklater). Die Kinder wurden vor laufender Kamera erwachsen und die Geschichte endet in dem Moment, da sie aus dem Haus gehen, um ihr eigenes Leben zu führen. Linklater insistiert sehr hartnäckig darauf, herausfinden zu wollen, was dieses »eigene Leben« denn überhaupt sei: ein Projekt, das sich realisieren lässt, wenn man nur will, oder eine Illusion, die diejenigen betrügt, die am meisten daran glauben?

Nun war das fast dreistündige Opus im Wettbewerb der Berlinale zu sehen und wurde von den Filmjournalisten aus aller Welt überaus euphorisch aufgenommen. Fast erleichtert brach der Beifall hervor, was ungewöhnlich ist, denn nach nicht wenigen Filmen, die in Pressevorführungen gezeigt werden, rührt sich keine Hand. Aber auf diesen Film hatte man lange gewartet. »Boyhood« hat das Besondere, das ein Festivalfilm braucht: Übermaß, in eine Form gebracht, die bezaubert.

Dabei passiert nicht eigentlich viel in »Boyhood«. Es ist eben ein Marathonlauf und kein Sprint. Doch am Ende stellt sich bei beidem der gleiche Effekt ein, die verwunderte Frage: Das soll schon alles gewesen sein? So ist es bei einer Reise, und dies ist die Geschichte einer Lebens-Reise. Am Anfang erscheint sie unendlich lang, am Ende rast die Zeit. Das, so gesagt, klingt fast schon wie eine Kalenderspruchplattheit, darum nimmt sich Linklater ja auch so viel Zeit, um die Geschichte atmen zu lassen, Übergänge und Abbrüche zu zeigen. Irgendwann erwächst dann aus ihnen etwas unaufdringlich Parabelhaftes.

Eine alleinerziehende Mutter, überfordert und ehrgeizig zugleich, diese Überforderung zu überwinden, beginnt wieder zu studieren, lebt mit einem neuen Mann zusammen, einem Akademiker, den sie anfangs bewundert, der sich dann bald als gefährlich aggressiver Trinker entpuppt, vor dem sie mit den Kindern flüchtet. Aufs Neue der Versuch, den Kindern einen Vater zu geben, wieder ist es ein Trinker, diesmal ein Soldat, der aus dem Irakkrieg zurückgekehrt war. Die strenge und disziplinierte Mutter versteht die Welt - und vor allem sich selbst - nicht mehr: Wieso passiert ihr immer der gleiche Fehler? Vermutlich, weil niemand aus seiner Haut heraus kann. Oder ist auch das nur eine Frage der Zeit? Am Ende ist auch ihr erster Mann, Vater der beiden Kinder, aufs Neue verheiratet und statt als Musiker arbeitet er nun als Versicherungsmakler. Der einstige bekennende Anarchist und Obama-Anhänger der ersten Stunde pflegt nun texanische Südstaatenrituale mit Kirchgang und Waffenkult und wundert sich nur selten noch über sich selbst. Schon komisch, jetzt endlich sei er zu dem langweiligen Ehemann geworden, den sich seine erste Frau von Anfang an gewünscht habe! Das Leben, so lernen wir hier ganz nebenbei, ist eben immer eine Frage des richtigen Timings.

Linklaters Projekt stellt sich gegen den Beschleunigungstrend der Zeit und dieser Mut zum langen Atem wird belohnt - so gelingt hier das einzigartige Alltagspanorama einer durchschnittlichen amerikanischen Familie, verwoben mit wichtigen Zeitereignissen wie dem Irak-Krieg und dem Ende der Ära Bush. Das einfache, unspektakuläre Leben ist doch niemals ereignislos. Geschichten zu erzählen gibt es immer - und Linklater hat einen Sinn für jene Zwischenräume, in denen sich die kleinen Dramen und Komödien unseres Lebens gewöhnlich abspielen. Eindringlich, mit nie nachlassender Sympathie erzählt dieser Regisseur von uns nun vertraut gewordenen Menschen, bringt ihre Lebensreise in einen bezwingenden Bilderstrom.

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