nd-aktuell.de / 01.03.2014 / Kultur / Seite 16

Jesus in der Verhörzelle

Peter Sellars inszeniert Bachs Johannespassion in der Philharmonie

Antje Rößler

Als Johann Sebastian Bach 1723 seinen Dienst als Thomaskantor in Leipzig antrat, geriet er in eine Zwickmühle. Einerseits musste er sich verpflichten, nur »nicht opernhafte« Kirchenmusik aufzuführen. Andererseits bestand bei wenig unterhaltsamen Stücken die Gefahr leerer Kirchenbänke. Die Suche nach einer Balance inspirierte den Komponisten zu Passionen, welche beim Hören die Handlung vor dem inneren Auge entstehen lassen.

Es hat bereits etliche Versuche gegeben, Bachs Passionen ähnlich wie Opern zu inszenieren. Als eine Art »Ritualisierung« beschrieb Peter Sellars seine 2010 mit den Berliner Philharmonikern erarbeitete Version der Matthäuspassion. Nun hat sich der Regisseur, dessen Ruhm auf TV-Versionen von Mozart-Opern beruht, Bachs Johannespassion vorgenommen. Premiere war am 27. Februar in der Berliner Philharmonie. Rechts saßen die zum Kammerorchester geschrumpften Berliner Philharmoniker; links vollführte der im Verhältnis zum Orchester zu groß besetzte Rundfunkchor Berlin seine Choreografien; vorn an der Rampe agierten die Solisten. In der Mitte stand Simon Rattle, durch die Aufstellung zu fortwährenden Drehungen gezwungen. Darunter litt die Präzision des ansonsten frisch und geschmeidig fließenden Klangs.

Für die großen Chornummern hat sich Sellars eigentümliche Choreografien ausgedacht, die an eine Kombination aus Eurythmie und Gebärdensprache erinnert. Der Regisseur koppelt jedes wichtige Wort mit einer Geste: Bei »Herrscher« erheben sich die Arme; bei »herrlich« werden die Hände aufs Herz gelegt. Manchmal wirkt das unfreiwillig komisch, wenn etwa der Aufruf »Kreuzige ihn!« mit einer Bewegung einhergeht, als würden Fliegen verscheucht. In ihren eindringlichsten Momenten entfaltet die Choreografie jedoch die körperlich spürbare Wucht einer emotional aufgeheizten Menschenmasse. Am intensivsten erlebt man das bei den Dialog-Chören von Hohepriestern, Volk und Soldaten, wo sich der Rundfunkchor in einen aggressiv geifernden Mob verwandelt.

Sellars geht es weder um theologische Auslegung noch um bloße Illustration der Leidensgeschichte. Vielmehr ermöglicht er den Nachvollzug menschlicher Grunderfahrungen - Angst, Schmerz, Verlust - durch eine Szene, die in der Andeutung verbleibt. Zerfetzte Kleider und Theaterblut sieht man nicht. Dennoch gelingt Roderick Williams als Jesus eine eindringliche Darstellung körperlichen Niedergangs: Er beginnt im kraftvollen Predigerton; am Ende liegt er gekrümmt und röchelnd am Boden. Am spannendsten sind die Szenen des Verhörs: Jesus, mit Handfesseln und Augenbinde, kniet unter einem grellen Scheinwerfer; vor ihm sitzt Pilatus auf einem Stuhl. Wie Christian Gerhaher als Statthalter hin- und hergerissen ist zwischen der von Jesus ausgehenden Faszination und dem Druck des mordlüsternen Volkes - das ist eine Schauspiel-Glanzleistung.

Zwar überzeugt Sellars mit seiner Darstellung der turbulenten Ereignisse; zum Problem wird jedoch die eingewobene Reflexion des Geschehens in den Arien und Chorälen, die dem Hörer eine Einkehr ermöglichen soll. Die Musik zeigt dann eine innere Befindlichkeit an, die sich schwerlich visualisieren lässt. Wenn etwa die Sopranistin Camilla Tilling in ihrer Arie »Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten« zwischen Petrus und Jesus hin- und herläuft, dann ist das schlichtweg banal.

Beide Ebenen kreuzen sich in der Figur des Evangelisten. Er ist einerseits neutraler Kommentator, andererseits zeigen seine Rezitative Momente der Anteilname, etwa bei den geschluchzten Worten »und weinete bitterlich«.

Peter Sellars jedoch setzt den Evangelisten mitten in die Handlung hinein. Wie ein allgegenwärtiger Komparse ist der Tenor Mark Padmore in fast jede Szene eingebunden; seine Stimme fließt geradezu über vor Dauer-Betroffenheit. Mit einer solchen Verschiebung von Reflexion zu Aktion kommt Sellars dem Geheimnis des vertonten Johannesevangeliums - der Königsherrschaft im geschundenen Leib - jedoch kaum näher.

Die letzte Aufführung heute Abend ist ausverkauft. Ein Mitschnitt steht aber in der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker bereit.

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