Schweizer und Neonazis

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Ich wohne in einer Gegend, die zu jenen gehört, die der ehemalige Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye kurz vor der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland 2006 als »No-Go-Area« bezeichnet hatte. Bedauerlicherweise wurde die Debatte damals auf die Gefahr reduziert, die von Neonazis ausgeht und vor allem Menschen anderer Hautfarbe betrifft. Der Begriff muss aber in einem umfassenderen Sinne verstanden werden. Sinngemäß meint er nämlich auch: Fremder, meide diese Gegend, denn hier sind dir die Einheimischen nicht wohlgesonnen, günstigstenfalls blicken sie dich böse an, schlimmstenfalls rauben sie dich aus - oder tun dir noch schrecklichere Dinge an. Die »No-Go-Areas« sind also Stadtteile, die man auch als Tourist meiden sollte. Für die autochthonen Bürger erfüllt das den Zweck, dass sie unter sich bleiben können.

Jahrelang galt das auch für die Lichtenberger Viktoriastadt. Ich brauchte in meiner fränkischen Heimat alten Freunden gegenüber nur das Wort »Lichtenberg« fallen zu lassen und es entwich ein erschrockenes »Oh« aus ihren Mündern. Das hatte Vor- wie Nachteile. Ein Vorteil war sicherlich, dass sich über Jahre kaum ein Tourist in der Gegend blicken ließ, auch von schwäbischen Bäckereien blieben wir bislang verschont.

Vor einigen Wochen stand ein PKW mit Schweizer Kennzeichen - Typ höherpreisiger Sportwagen - vor unserem Haus. Tagelang stand er da, und er wurde vom Besitzer auch in den Tagen nach dem Referendum in seiner Heimat gegen den unbegrenzten Zuzug von Ausländern nicht wegbewegt.

Am Montag nach der Schweizer Abstimmung gingen zwei Frauen mit ihren Kindern an dem Fahrzeug vorbei. »Guck mal, ein Schweizer«, meinte die eine. »Dass der sich noch hier her traut«, warf die andere ein. Das sich daraufhin entwickelnde Gespräch erregte die Aufmerksamkeit der polnischen Bauarbeiter auf der gegenüberliegenden Straßenseite, die gerade dabei sind, eine der wenigen noch vorhandenen Baulücken im Kiez mit einem Neubau zu schließen. Bald werden dort Leute Eigentumswohnungen kaufen, die in den schönen Prospekten der Immobilienhaie gelesen haben, dass sich bei uns »ein Weinhändler bereits nach kurzer Zeit etablieren konnte«.

Die Bauarbeiter hielten kurz inne und kamen näher. Das Auto wurde von allen Seiten begutachtet, wobei die Polen einige fachmännische Bemerkungen zur PS-Zahl des Boliden äußerten. Der Besitzer ließ sich allerdings nicht blicken. Nach ein paar Minuten zerstreute sich die kleine Menschenmenge wieder und jeder ging seines Weges.

Es ist einer der Vorteile der viel geschmähten Gentrifizierung, dass diese auch die No-Go-Areas nach und nach zum Verschwinden bringt. Ja, man muss sogar sagen: ohne die Besiedelung durch wohlhabende Schwaben, erlebnishungrige Hipster und anderlei bourgeoises Volk wäre unser Kiez nach wie vor das, was er in den 1990er Jahren war: eine Hochburg der Glatzen und Springerstiefelträger.

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