Lenin und das Mädchen

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.

Dienstagabend im ARD-Brennpunkt: Das Lenindenkmal in Charkiw und das Gesicht eines wunderschönen Mädchens, sorgsam geschminkt für das Interview. Schon tagelang würde sie mit ihrer Freundin auf dem Platz ausharren, um das Denkmal zu schützen. »Weil es zu unserer Geschichte gehört«, sagte sie vor der Kamera. - Das sind Bilder, wie Journalisten sie lieben: emotional und bizarr. Aber wenn man selber von den Geschehnissen in der Ukraine so umgetrieben ist, hat das letztlich auch mit diesem Lenin zu tun. Mit seinem ausgestreckten Arm - so wurden Herrscher ja gern in Bronze gegossen: Folgt mir, ich weiß, wo’s langgeht. Und die Massen sind ihm gefolgt. Glaube und Hoffnung sind ihnen Halt gewesen, um unter schwierigen Lebensbedingungen für die Zukunft zu arbeiten - und das mehr als sieben Jahrzehnte.

Die Utopie ist zerbrochen. Die eruptive Macht der Sehnsucht, die in einer Ost-Orientierung keine Hoffnung mehr sieht, wir erlebten sie auf dem Maidan. Konnten mitfühlen mit dem Wunsch junger Leute, dass die Ukraine sich schnellstmöglich an die EU anschließen möge, weil dort goldenen Berge vermutet werden. Und die anderen, die Nationalisten, die uns so Angst machen, wüten gegen West wie Ost. Angeheizte Emotionen - dahinter Machtinteressen politischer und ökonomischer Art. Die heimische Oligarchie in Konkurrenz zueinander, westliche Geheimdienste und Politiker mischten sich ein ins Spiel. Zauberlehrlinge, die nun die Geister nicht mehr bändigen können, die sie gerufen haben.

Denn worum es eigentlich geht, ist ein besseres Leben für alle. Schon den Eltern und Großeltern der Demonstranten ist es versprochen gewesen. Doch, nüchtern gesagt, hat das Sozialprodukt eben in der Sowjetunion nicht für alle gereicht. Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen - das war das kommunistische Ziel, das immer mehr in die Ferne rückte. Wie viele Kinder sind aufgewachsen mit diesem Traum und wurden enttäuscht. Und jetzt die Oligarchen enteignen, um die Staatsschulden der Ukraine zu begleichen? Aber die verhalten sich doch entsprechend marxistischer Lehrbücher. Sie treiben die ursprüngliche Akkumulation voran - oder nicht einmal das, wenn sie ihr Vermögen statt im Lande zu investieren, im Ausland horten. Hemmungslose Bereicherung Einzelner auf Kosten der Massen. Die sich dann über Janukowitschs Palast empörten, als lebten sie nicht in einer Oligarchie.

Wenn es jetzt gelänge, die politischen Konflikte in der Ukraine einigermaßen glimpflich zu lösen, blieben die Probleme ökonomischer Art. Lenin hat sich erst einmal die Elektrifizierung zum Ziel gesetzt. Wenn auch später sowjetische Kosmonauten in den Kosmos flogen, minderte das die Tatsache nicht, dass das wirtschaftliche Potenzial des riesigen Landes nicht mobilisiert werden konnte, um den erhofften Wohlstand zu ermöglichen, dass die als sozialistisch bezeichneten Produktionsverhältnisse den Produktivkräften nicht den notwendigen Entwicklungsraum gaben. Leser mögen mir jetzt sofort mit den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges kommen und überhaupt mit dem imperialistischen Kampf gegen die Sowjetunion. Ich weiß das alles. Im Kalten Krieg hat sich die UdSSR totgerüstet.

Aber es bleibt unterm Strich, dass die Oktoberrevolution zwar die Feudalklasse vernichtete, dass feudales Machtgehabe aber wieder aufflammte, weil die bürgerliche Grundlage der Entwicklung fehlte. Lenins »Neue Ökonomische Politik« währte nur wenige Jahre, weil sie von den Kräften um Stalin prinzipiell abgelehnt wurde. So hat sich jene Mittelschicht nur ungenügend herausgebildet, die eine Demokratie hätte tragen können.

Ein fürstliches Gebaren eigentlich (und völkerrechtlich zweifelhaft), wie Nikita Chrustschow 1954 die Halbinsel Krim verschenkte. Hätte er ahnen können, dass zwischen der Ukraine und Russland einmal eine Staatsgrenze verlaufen würde, hätte er das gewiss nicht getan. Im Grunde verhielt er sich wie ein Gutsbesitzer, der ein Dorf samt Leibeigenen verschenkt oder verspielt.

Die Leibeigenschaft wurde in Russland erst 1861 abgeschafft, etwa 50 Jahre später als in Westeuropa. Die Masse der Bauern wurde jedoch von der wenig entwickelten Industrie nicht benötigt und verarmte weiter. Das war gewiss eine der Ursachen für die Oktoberrevolution, die für den Augenblick ein politischer Umsturz war - in einem rückständigen Land. Entsprechend die Ziele. Um die Befreiung aller ist es gegangen, aber nicht um die Emanzipation des Individuums.

Das Erbe der Leibeigenschaft gebiert ein Verhältnis zum Menschen, das von den Bedürfnissen des Einzelnen absieht. Es ging immer ums große Ganze. Von politischen und ökonomischen Pressionen abgesehen - das sowjetische System war nicht so, dass die Politiker im Kreml sich vorrangig um das Wohlergehen der Leute gekümmert hätten, zumal nicht in der Provinz.

Wenn die Führung um Putin im Machtkampf um die Ukraine einen Kompromiss erreicht, wird das nicht hoch genug zu würdigen sein. Denn es geht nicht nur um die Interessen Russlands, sondern um die Stabilität einer riesigen Region, in der viele Ethnien zusammenleben. Ein Erfolg wäre es auch innenpolitisch. Aber vor den Problemen im eigenen Land wird niemand im Kreml auf Dauer Ruhe haben. Eine Oligarchie kann heute die Menschen nicht mehr befriedigen, und für den chinesischen Weg einer kontrollierten Kapitalisierung mit Förderung der Mittelschicht ist es vermutlich zu spät.

Und die EU: Sie hätte sich die Ukraine in die Tasche stecken können, aber das hätte mehr Geld gekostet, als man ausgeben wollte und konnte. Ein Füllhorn - das wäre ein Patentrezept für alle krisengeschüttelten Regionen der Welt.

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