Handwerk oder Kaiserschnitt

Die freie Hebamme Christine Schuppe kämpft um das Überleben ihres Berufsstandes und für die natürliche Geburt

  • Lesedauer: 8 Min.

Julia Drebes liegt ganz bequem auf dem Rücken und schaut glücklich zwischen ihrem Achtmonatsbauch und ihrem Freund Karsten Knorr hin und her. Vor ihr kniet Hebamme Christine Schuppe und tastet nach dem Baby. »Atme mal ein und aus«, bittet sie die junge Frau. und schon hat sie »die Kleine« ganz genau lokalisiert. »Hier ist der Po, jetzt habe ich den Fuß. Das Bein hat sie so angewinkelt«. Christine steht auf und zeigt, wie das Kind gerade liegt. Sophie, Charlott oder Lilly - wir wissen bis hierhin nur das Geschlecht und die ersten Namensüberlegungen der Mutter - hat sich schon ein ganz klein wenig in die Geburtsposition gedreht. Sie will raus, bereitet sich vor. Ihr Herz schlägt gemütliche 130 Schläge pro Minute, schätzt Christine, und legt das Stethoskop wieder aus der Hand. Jetzt noch den Bauchumfang messen: Es sind 100 Zentimeter. Seit letzter Woche, sagt Julia strahlend, machen mir die Leute in der U-Bahn Platz.

Die 30-jährige Hamburger Biochemikerin und der 38-jährige Informatiker aus dem Rheinland leben und arbeiten seit dem Abschluss ihres Studiums in Berlin. Sie haben das Geburtshaus in Berlin-Charlottenburg empfohlen bekommen, sich hier umgeschaut und gleich das Gefühl gehabt, richtig zu sein. Verschiedene Räume in warmem Interieur, alle möglichen Varianten für das Gebären, zwei Hebammenteams mit erfahrenen Mitarbeiterinnen, ständige Rufbereitschaft und der schnelle Kontakt zur Frauenklinik und zum Kinderarzt im benachbarten DRK-Klinikum. Und keine übermäßige Esoterik, meint Karsten, sie seien ja beide Naturwissenschaftler. Räucherstäbchen und Mantragesänge seien nicht ihr Ding, ergänzt Julia. Ob sie ihr Kind in der Badewanne oder im Liegen oder Stehen bekommen will, weiß sie noch nicht. Das lasse sie auf sich zukommen, sagt sie und man spürt wohltuende Gelassenheit, Sicherheit, Kraft.

Hebammen 
ohne 
Geburten

Rund 21 000 Hebammen gibt es in Deutschland Doch ein Teil von ihnen hat sich schon aus der Geburtshilfe verabschiedet, weil die Haftpflichtprämien nicht mehr zu bezahlen sind.

Sie betreuen zwar Frauen, bevor ihr Kind zur Welt kommt, und auch danach, aber mit der eigentlichen Geburt haben sie nichts mehr zu tun: Hebammen in Deutschland, die auf den schönsten Teil ihres Berufes verzichten müssen, weil sie ihn sich einfach nicht mehr leisten können.

Ohne Geburtshilfe zahlen sie lediglich ein Zehntel der Haftpflichtprämie, die sich im Sommer dieses Jahres auf über 5000 Euro erhöhen soll. Als Gründe dafür geben die Versicherer die hohen Schadensersatzforderungen der Krankenkassen für die Therapie von Kindern nach einem Geburtshilfefehler an.
Etwa 3500 Hebammen sind noch nicht aus der Geburt ausgestiegen. Sie arbeiten als Freiberuflerinnen in Geburtshäusern, betreuen Hausgeburten oder haben in Krankenhäusern ihre Belegbetten. Doch wo werden sie im nächsten Jahr eine Haftpflichtversicherung abschließen können? Ein an der Gruppenversicherung der Hebammen beteiligtes Versicherungsunternehmen hat den Ausstieg angekündigt, so dass die ganze Versicherung auf der Kippe steht. Existenzen sind in Gefahr, aber auch die natürliche Geburt, die nach Ansicht von Expertinnen wie der Hebamme und Wissenschaftlerin Mechthild Groß »das Normale« ist. Sie sieht den Trend zur medizinisch überwachten, möglichst schmerzfreien Geburt sowie zum Kaiserschnitt kritisch. Das Risiko, dass bei einer Geburt etwas schief geht, bleibe auch bei medizinischer Überwachung bestehen. Zahlreiche Ärzte wiederum argumentieren mit den technischen Möglichkeiten einer Klinik im Notfall – etwa, wenn die Sauerstoffversorgung des Babys blockiert ist und man nur wenige Minuten Zeit für eine operativen Eingriff hat.

Die freien Hebammen und ihre Verbände kämpfen um den Erhalt ihrer Arbeit, sie organisierten Demonstrationen und diskutierten mit Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU). Eine Online-Petition fand 286 000 Unterstützer. Mehrere Bundesländer initiieren jetzt Hilfe für freiberufliche Hebammen. Sie fordern den Bund auf zu prüfen, ob die Vergütung von Hebammen erhöht und Höchstgrenzen für die Haftung eingeführt werden können. Im Gespräch sind ein Haftungsfonds aus Steuergeldern sowie der Einstieg der Gesetzlichen Unfallversicherung in die Hebammenabsicherung. ott

Sicherheit ist Hebamme Christine Schuppe und ihren zwölf Kolleginnen im Geburtshaus Charlottenburg gerade ein bisschen abhanden gekommen. Die Existenzbedingungen in der Branche verkomplizierten sich enorm. Die Kosten für Haftpflichtversicherungen haben sich binnen zehn Jahren mehr als verzehnfacht. 5000 Euro sollen die Geburtshelferinnen jetzt bezahlen. Schadensersatzforderungen der Krankenkassen an die Versicherungen sind gestiegen, weil auch die Kosten für Therapien nach Geburtsfehlern größer geworden sind. Mehr Schadensmeldungen gibt es nicht. Seit Jahren machen Hebammen in ihren Verbänden auf die Bedrohung aufmerksam, gehen an die Öffentlichkeit, besuchen die Bundesgesundheitsminister, streiten sich mit den Krankenkassen über ihre Vergütung. Mit mäßigem Erfolg. Viele haben bereits aufgegeben, weil sie diese Summen mit einem durchschnittlichen Stundenlohn von 8,50 Euro nicht mehr erwirtschaften konnten. Christine Schuppe und ihre Berufskolleginnen setzen sich für einen Haftungsfonds aus Steuergeldern ein, damit nicht noch mehr Geburtshäuser schließen müssen, und sich in den verbleibenden die Telefone heißklingeln.

Am Spandauer Damm 130 in Berlin vergibt man derzeit bereits Termine für September. Geburt ist keine Krankheit, heißt es hier auf einem Plakat am Eingang, das die Positionen der Weltgesundheitsorganisation wiedergibt und für die natürliche Geburt wirbt, die auch Christine Schuppe - selbst Mutter zweier Kinder - präferiert. Die 46-Jährige aus der Uckermark erinnert sich noch genau an die Situation, in der ihr Berufswunsch entstand. Sie war 12 Jahre alt, als sie eine Fernsehsendung sah, in der eine Hebamme zusammen mit ihrem Mann, einem Arzt, Frauen bei Hausgeburten unterstützte. Obwohl das in der DDR nur selten vorkam - die Zahl der Hausgeburten lag 1970 bei einem Prozent - ,wollte Christine fortan Hebamme werden. Mit 16 ging sie auf die Medizinische Fachschule in Berlin; lernte die Theorie und sammelte erste Erfahrungen im Kreißsaal, wo sie als junges Mädchen ohne Berufserfahrungen dennoch gut angenommen wurde. Eine Frau hat ihr während einer langen gemeinsamen Nacht ihr ganzes Leben erzählt. Als in einer besonders komplizierten Situation bei einer Gebärenden mal die Tränen flossen, weinte Christine auch mit, ehe es so weit war, dass sie endlich die Zehen des Neugeborenen zählen, es wiegen und messen konnte oder die Vollständigkeit der Placenta überprüfen durfte. Allerdings war nicht jede Erfahrung aus dieser Zeit ermutigend, wie sie heute findet. Nicht die Massenabfertigung in großen Kliniken und auch nicht die Technisierung eines Vorganges, der einmal ein ganz natürlicher war. Da war immer noch dieser Film in ihrem Kopf und der Wunsch, ganz individuell für eine Frau da zu sein, wenn ihr Kind zur Welt kommt, behutsam und achtsam.

1992 beginnt Christine Schuppe im Geburtshaus Berlin-Charlottenburg zu arbeiten, dem ersten Geburtshaus des Landes. Hier sind 13 Hebammen in zwei Teams tätig. Sie betreuen die Frauen vor und nach der Geburt, sind über einen Notruf ständig mit ihnen verbunden und bei der Geburt stört kein Schichtwechsel die Intimität und Besonderheit der Situation. In unterschiedlichen Räumen wie dem Königinnen- oder dem mediterranen Zimmer können ganz verschiedene Gebärpositionen eingenommen werden. Wer glaubt, das Mütter ihre Kinder vornehmlich auf dem Rücken in die neue Welt entlassen, der irrt gewaltig. Die Hälfte aller Geburten erfolge in der Badewanne, erzählt die Hebamme. Im vergangenen Jahr seien im Haus 340 Kinder zur Welt gekommen, lediglich zweimal habe man ein Neugeborenes anschließend ins Krankenhaus überweisen müssen. Die Geburt sei hier nicht unsicherer als in einer Klinik, denn hier wie dort werde sie von erfahrene Hebammen begleitet. Der Unterschied bestehe lediglich darin, dass im Krankenhaus eine Hebamme mehrere Frauen betreue und daher unter Zeitdruck stehe. Das spüren natürlich auch die Frauen. Außerdem laufe alles viel technisierter ab. Doch auch Kaiserschnitte oder Periduralanästhesie (PDA) - das ist eine schmerzhemmende Spritze ins Rückenmark - haben Risiken, meint Christine Schuppe. »Wenn man es der Natur überlässt, gibt es nicht so viele Komplikationen«, glaubt sie. Die wachsende Zahl von Kaiserschnitten auf 34 Prozent oder der verabreichten PDA ist nach ihrer Meinung nicht allein der Angst der jungen Frauen vor großen Schmerzen geschuldet, sondern ebenso der Angst der Ärzte in den Kliniken, der Situation nicht gewachsen zu sein. Anstatt den Frauen ihre Sorgen zu nehmen und ihnen im Gegenzug Selbstvertrauen zu geben, machen sie sie unsicher.

Vielleicht tragen auch die Strukturen des Gesundheitssystems dazu bei, dass die natürliche Geburt immer öfter durch Operationen ersetzt wird. Kliniken erhalten für eine Geburt mit einer Verweildauer von ca. drei Tagen 1500 Euro und für einen Kaiserschnitt, den man zudem einplanen kann, 2400 Euro. Die Geburt im Geburtshaus wird mit 1562 Euro honoriert, unterscheidet sich also in den Kosten nicht wesentlich von der Klinikgeburt. Im übrigen sind die Summen immer etwas höher, wenn das Kind bei Nacht kommt, was Kinder in der Regel aufgrund der um Mitternacht erhöhten Ausschüttung des Wehenhormons Oxytocin während dieser Zeit auch tun. Für die Möglichkeit einer ständigen Rufbereitschaft in den Wochen vor der Geburt zahlen die Frauen im Charlottenburger Geburtshaus 450 Euro, die meisten gesetzlichen Krankenkassen übernehmen davon 250 Euro. Viele Frauen nutzen das und sind beruhigt, wenn sie die Hebamme auch mal am Wochenende, abends oder gar nachts anrufen dürfen. Zum Beispiel, wenn es sich plötzlich so anfühlt, als bewege sich das Kind nicht mehr oder die Herztöne nicht mehr zu hören sind. Dann überzeugt sich die diensthabende Hebamme des Teams gern persönlich davon, dass Mutter und Kind wohlauf sind.

In die Debatte um die Sicherung der Existenz freier Hebammen mischte sich kürzlich auch die Hebamme und Wissenschaftlerin Mechthild Groß ein. »Frauen und Männer müssen sich wieder darauf besinnen, dass eine Geburt etwas Normales ist, das eine Frau mit Hilfe einer Hebamme gut durchstehen kann«, sagte sie einem Pressedienst. Groß leitet den bundesweit einzigen Hebammen-Masterstudiengang an der Medizinischen Hochschule Hannover. Der Trend der vergangenen Jahre hin zur medizinisch überwachten, möglichst schmerzfreien Geburt sowie zum Kaiserschnitt habe zur Konzentration auf große Geburtshilfezentren geführt. Dabei seien die kleinen Kliniken, Geburtshäuser und freien Hebammen zunehmend auf der Strecke geblieben, kritisierte Groß. Frauenärzte und Versicherungen hätten diese Entwicklung forciert. Das Risiko, dass bei einer Geburt etwas schiefgehen könne, bleibe aber auch bei noch so guter medizin-technischer Überwachung bestehen, glaubt Groß. Gesunde, junge Frauen könnten durchaus in Geburtshäusern oder zu Hause gebären: »Wir dürfen nicht von Anfang an risikoorientiert denken.« Ein Mischsystem von spezialisierten Kliniken, Geburtshäusern und freiberuflichen Hebammen sei wichtig. »Wer sollte denn sonst auch die Nachsorge der Mütter im Wochenbett übernehmen?«

Christine Schuppe freut sich nach einem gesprächsreichen Arbeitstag mit künftigen Müttern und Vätern über einen solchen Nachsorgetermin in Berlin-Reinickendorf. Es ist ihre einzige Verabredung an diesem Tag mit einem kleinen Baby, welches der Begegnung allerdings verschnupft entgegenschläft und nicht gerade von der Störung begeistert ist. Mutter Ines Merlin aus Berlin-Reinickendorf, nimmt die kleine Erkältung des drei Monate alten Juniors nicht so tragisch. Schließlich hat er zwei ältere Brüder, die immer mal wieder ein paar Keime aus der Kita oder der Schule mit heim bringen. Da muss der Kleine wohl durch, aber sein Protest ist laut, als Christine Schuppe noch einmal den Nabel betrachtet und ihn behutsam in ein weißes Wiegebeutelchen legt, dass sie sich eigens hat nähen lassen. Sie hängt den kleinen Kerl samt Beutel an die Handwaage. 5530 Gramm, ganz ordentlich, finden Mutter und Hebamme. Vom ganzen Schreihals schaut nur noch ein Fuß heraus. Wie vielen Babys Christine Schuppe schon auf die Welt geholfen hat, weiß sie nicht. »Ich habe bei 1000 aufgehört zu zählen«, antwortet sie. Für die Hebamme ist die Geburtshilfe ein Handwerk, ihr Ultraschallgerät sind die Fingerspitzen auf dem Bauch. Und sie ist ein Mundwerk, weil über alles mit den Müttern geredet werde und sie niemals allein gelassen sind.

Ines Merlin und ihr Mann haben die Familienplanung mit drei Kindern zwar abgeschlossen, aber die junge Lehrerin engagiert sich sehr für die Hebammen in den Geburtshäusern. Sie kennt den Unterschied zwischen Klinik und Geburtshaus aus eigenem Erleben und hat Hochachtung vor kompetenten und einfühlsamen Geburtshelferinnen. Sie habe einige Jahre in Frankreich gelebt und hätte da niemals ihr drittes Kind bekommen wollen, erzählt sie. Erst jetzt beginne man in Frankreich, Geburtshäuser einzurichten. Und hier sei diese unverzichtbare Errungenschaft bedroht? Das sei nicht zu verstehen. Zur letzten Demonstration der Hebammen hat sie auch ihren Großen mitgekommen. Er ist sieben Jahre alt, sagt Ines Merlin. Aber das versteht er schon.

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