nd-aktuell.de / 12.03.2014 / Kultur / Seite 47

Die biologische Uhr tickt

Christina Seidel gibt den in der DDR geschiedenen Frauen eine Stimme

Silvia Ottow

»Ein Glück, dass man nicht weiß, wie das Leben endet, sag ich. Wenn meine Mutter das geahnt hätte. Das ganze Leben geschuftet, vier Kinder, und dann wird sie mit 550 Euro Rente abgespeist«. In dieser ersten Geschichte von Christina Seidels Büchlein erzählt die ehemalige Postangestellte Ursel, Jahrgang 1941 und Mutter eines Kindes, vom Schicksal ihrer Mutter Renate. Die war 1921 geboren worden und bekam im Krieg ihr erstes Kind. Der Vater war Soldat, er suchte sich eine neue Frau und Renate musste sehen, wie sie klar kam.

Schließlich heiratete die junge Mutter einen Friseur, der später Polizist wurde und mit dem sie weitere Kinder bekam. »Als ich elf Jahre alt war, hab ich von Leuten aus dem Ort erfahren, dass der T. nicht mein richtiger Vater ist. Da war er aber schon auf und davon, hatte noch einmal meine Mutter geschwängert und ist dann mit einer anderen nach dem Westen, ohne sich um seine Kinder zu kümmern. Mutti hat hier gesessen, geheult, vier Jahre hat es bis zur Scheidung gedauert.«

Scheidung also. Man kann sich vorstellen, dass es für Renate gar nicht möglich war, sich mit vier Kindern in der Nachkriegszeit noch um irgendeine Ausbildung kümmern zu können. Die hätte es ihr vielleicht später ermöglicht, eine gut bezahlte Arbeit zu bekommen, mit der sie ihre Rente hätte aufbessern können. Im Gegenteil, auch die Kinder mussten mitarbeiten, um das Überleben der Familie zu sichern. Ursel erinnert sich: »Einmal hab ich Kohlen beim Bäcker reingeschaufelt, da hab ich ein Brot zum Abend gekriegt, mit dem kam ich freudestrahlend nach Hause, oder ich hab für andere Leute eingekauft, Wolle gewickelt und dafür mal eine Kleinigkeit bekommen, wie Vitalade. Schokolade gab's nur zu Weihnachten, für jeden eine halbe Tafel. «

Die Mutter hatte zuerst beim Vater in der Mühle mitgeholfen - natürlich unversichert - , dann im Forstbetrieb und zum Schluss in drei Schichten im Drahtseilwerk. Durchweg schwere Tätigkeiten. Als sie im Rentenalter war, hat sie noch zwei Jahre drangehängt, um 27 Mark Betriebsrente im Monat zu bekommen. Renate, inzwischen über 90 Jahre alt, verbringt ihren Lebensabend in einem Heim. 2600 Euro kostet der Platz, aber Rente und Pflegegeld reichen dafür nicht. 660 Euro zahlt das Sozialamt. Warum eigentlich nicht alles?

Renate und die anderen 15 Frauen zwischen 63 und 90, die Christina Seidel für ihr Buch das Herz geöffnet haben, sind leider kein Einzelfall. »Schätzungsweise 400 000 Frauen sind betroffen, ebenso viele sind schon gestorben«, schreibt Dorothea Seefeld in ihrem Nachwort. Grund dafür seien die unterschiedlichen Familienmodelle in Ost und West, die sich auf die gesetzliche Rente auswirkten. Im Westen galt das traditionelle Ernährermodell, demzufolge die Mütter vorwiegend zu Hause blieben, um sich um die Kinder zu kümmern, während der Vater Geld verdiente. Auch nach einer Scheidung war er aufgrund seines höheren Verdienstes in Form von Unterhalt für Frau und Kinder weiter verantwortlich, in der Rentenzeit über den Versorgungsausgleich. Das bedeutet: Während der Ehezeit erworbene Rentenpunkte beider Eheleute wurden zusammengefasst und hälftig verteilt.

In der DDR gab es spezifische Rentenelemente, die Frauen wie Renate wenigstens die Mindestrente sicherten. Doch die wurden gestrichen, der Versorgungsausgleich des Westrechts nicht übernommen. Alle Versuche, den betroffenen Frauen die Demütigung eines Lebensabends in Armut nach Jahrzehnten voller Entbehrungen, Schufterei und Sorge um das Wohl der Kinder zu ersparen, scheiterten bisher. Das Rentenrecht wurde nicht reformiert und es enthält bis heute Bestimmungen, die Frauen diskriminieren.

1992 gründete sich der Verein der DDR-geschiedenen Frauen e.V., er konnte aber bisher nichts an der Lage ändern. 2011 beantragte er ein Untersuchungsverfahren vor der UN-Menschenrechtskommission, weil »eine Beendigung der durch den Einigungsvertrag 1990 gegen uns als in der DDR geschiedene Frauen zustande gekommene, schwerwiegende und systematische Geschlechterdiskriminierung weder von der Regierung noch von den Abgeordneten in den Debatten des Bundestags bis jetzt erwähnt oder in Aussicht gestellt worden« ist, wie es auf der Webseite des Vereins heißt. Will man warten, bis sich das Problem auf biologischem Weg erledigt hat?

Christina Seidel jedenfalls, die ihr erschütterndes Büchlein in nur neun Monaten realisierte, hat schon viel Resonanz bekommen. Eine Leserin schrieb ihr, dass das Buch Frau Merkel geschenkt werden möge und etwas von dem, was darin stünde, ihr dickes Fell durchdringe. Und eine andere Frau meint, es solle Schullektüre werden.

Christina Seidel: Mütter ohne Wert. Scheidung in der DDR[1] - Frauen berichten. Mitteldeutscher Verlag. 159 S., br., 12,95 €.

Links:

  1. http://www.nd-aktuell.de/shop/index.php?booksearch=1&s%5Btitle%5D=M%FCtter+ohne+Wert.+Scheidung+in+der+DDR&s%5Bauthor_lastname%5D=&s%5Bauthor_firstname%5D=&s%5Bpublisher%5D=&s%5Byear%5D=&s%5Bisbn%5D=&action=submit