nd-aktuell.de / 11.03.2014 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 2

»Soziale Stadt geht nur jenseits von Profitorientierung«

Andrej Holm über Gentrifizierung, Ertragslücken und die vorgeblich neue Toleranzpolitik der Behörden

Der Stadtsoziologe Andrej Holm forscht an der Berliner Humboldt- Universität zu den Schwerpunkten Gentrifizierung, Wohnungspolitik im internationalen Vergleich und Europäische Stadtpolitik. Über Verdrängungsprozesse in den deutschen Innenstädten und Instrumente für eine soziale Wohnungsversorgung sprach mit ihm für »nd« Velten Schäfer.

nd: Was ist Gentrifizierung? Wie nützlich ist das Schlagwort zur Beschreibung sozialer Realitäten und zur politischen Mobilisierung?
Holm: Der Begriff hat seit den 1960er Jahren Eingang in die Stadtforschung gefunden und beschreibt Prozesse der Aufwertung, die mit Verdrängungsprozessen ärmerer Haushalte einhergingen. Im Unterschied zu anderen Konzepten - wie etwa Reurbanisierung oder Revitalisierung - thematisiert der Gentrification-Begriff immer auch die sozialen Kosten des Stadtumbaus mit. Wegen dieser sozialen Brisanz wurde der Begriff auch schnell von Mieterbewegungen aufgegriffen. In den aktuellen Debatten etwa in Berlin ist der Begriff so populär, weil sich tatsächlich große Teile der Innenstadt zu Gebieten der Aufwertung und Verdrängung entwickelt haben.

Vielerorts, etwa in Berlin-Friedrichshain, lässt sich beobachten, dass gerade die Viertel bzw. sogar genau die Straßenzüge, in denen stets fantasievoll gegen »Umstrukturierung« gekämpft wurde, später geradezu Zentren der Gentrifizierung werden. Ist das Zufall - oder sich selbst erfüllende Prophetie?
Es ist ein typisch konservatives Argument, die Pioniere der Aufwertung als Ursache der Entwicklung hinzustellen und ausgerechnet denen, die gegen Verdrängung protestieren, einen Teil der Schuld zuzuweisen. Aber das ist falsch: Protest, Subkultur und Gentrification haben vielmehr die gleiche Ursache und etablieren sich vor allem in den vernachlässigten Innenstadtlagen. Hier gab es leerstehende Häuser und Gewerbeflächen, hier gibt es die Freiräume für das Entstehen einer Alternativkultur, doch vor allem gibt es aus immobilienwirtschaftlicher Perspektive in solchen Vierteln die höchsten Ertragslücken. Letztendlich ist es immer der ökonomische Anreiz, mehr aus dem Grundstück herauszupressen, der die Verdrängungsprozesse auslöst.

Noch Mitte der 1990er stellte man sich erfolgreiche Stadtentwicklung drakonisch vor; Null-Toleranz-Politik gegenüber deviantem Verhalten von Herumlungern bis Graffiti war die Devise. Inzwischen gilt vielerorts ein Leitbild von »Technology, Talent, and Tolerance«, das die kreative Klasse anziehen soll. Etwa der Berlin-Boom der letzten Jahre geht darauf zurück. Haben diese Konzepte einander abgelöst? Oder überlagern sie sich?
Die scheinbare Toleranz für die »Creative Class« wird von vielen Stadtverwaltungen gerne aufgegriffen um sich in den imaginierten Standortkonkurrenzen zu positionieren. Doch nur selten löst sie repressive Stadtpolitiken tatsächlich ab, etwa gegen Illegalisierte oder die Kriminalisierung bestimmter Jugendkulturen. Insbesondere die Opfer von Kontrollpolitiken spüren vom Laissez-faire der neuen Toleranz nur wenig. Was sich dort durchsetzt, ist eher keine größere Toleranz als vielmehr eine Politik der Pazifizierung, die stärker als früher auf Prävention und die Einbeziehung der Zivilgesellschaft setzt. Die Mittel polizeilichen Handelns haben sich geändert, die Ziele sind die alten geblieben.

Wer sitzt an den Schalthebeln, die derartig überzogene Aufwertungs- und darauf folgende Verdrängungsprozesse am wirksamsten bremsen könnten: der Bund? Oder die Kommunen vor Ort?
Wirksame Instrumente für eine soziale Wohnungsversorgung setzen eine umfassende Neuorientierung der Politik voraus. Im Kern muss der Wille stehen, Marktprozesse nicht nur abzufedern, sondern tatsächlich Verwertungsmöglichkeiten einzuschränken. Denn nur jenseits eines profitorientierten Wohnungssektors wird es eine soziale Stadt geben. Praktisch wird sich solch eine andere Wohnungspolitik nur in der gezielten Verknüpfung von bundes-, landes- und kommunalpolitischen Instrumenten durchsetzen lassen.

Kennen Sie Beispiele, in denen solche Gentrifizierungsprozesse besonders wirksam gebremst oder gestoppt werden konnten? Wenn ja, was lässt sich daraus lernen oder gar verallgemeinern?
Es gibt auch international nur wenige Beispiele für ein erfolgreiches Gegensteuern. Aber es gibt Viertel und Städte, in denen die Gentrification kein so starkes Thema ist, etwa in ungünstigen Lagen oder auch in Städten mit einem hohen Anteil von kommunalen Wohnungsbeständen. Wien war da sicherlich mit seinem Gemeindewohnungsbau lange Zeit vorbildhaft.