Kann ein Leser scheitern?

Über das Lesen als Alltagskunst

  • Gernot Wolfram
  • Lesedauer: 7 Min.

Vor kurzem hörte ich, wie ein Kollege über einen älteren Schriftsteller beiläufig sagte, er sei »zu einer gescheiterten Existenz geworden«. Der Anlass für diese Äußerung war banal: Der Verlag hatte sein letztes Buch nicht mehr drucken wollen, nun hatte er kurzzeitig Geldprobleme. Das war der Anlass, mit einer lapidaren Bemerkung seine ganze Existenz als gescheitert zu betrachten. Solche Äußerungen darf man nicht überbewerten. Sie gehören zum Literaturbetrieb wie zu vielen anderen Szenen auch. Sie sind Teil des öffentlichen Lebens, in dem es sogenannte Aufsteiger und Absteiger gibt.

Ich habe mich in diesem Zusammenhang aber gefragt, ob es auch so etwas wie einen gescheiterten Leser gibt? Wenn jemand aufhört zu lesen, weil er kein Interesse mehr daran hat, dann würde man nicht davon sprechen, dass er gescheitert ist. Er hat einfach nur eine andere Wahl getroffen. Und zugleich bleibt er ein potenzieller Leser!

Gernot Wolfram

...1975 in Zittau geboren, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Bei der Deutschen Verlags-Anstalt erschien zuletzt sein Roman »Das Wüstenhaus«. Der Verlag Hentrich & Hentrich brachte kürzlich seinen vielbeachteten Essay »Der leuchtende Augenblick - Über Menschen und Orte des Lesens« heraus, in dem er der Kraft und der Bedeutung von Lesern und ihren Leseorten nachspürt. Für sein literarisches und essayistisches Werk hat Gernot Wolfram bereits mehrere Preise erhalten. Er schreibt für den Rundfunk und das Theater und lehrt an verschiedenen Hochschulen im In- und Ausland.

Er macht sich für ein Literaturverständnis stark, in dem der Leser wieder zu einer umfassenden Figur modernen Medienverständnisses wird. nd

Foto:privat

Mit dem Erlernen der Schrift verlässt man diese Rolle nicht mehr. Zu jedem Zeitpunkt kann man wieder in den Raum eintreten, in dem Buchstaben nicht nur bloße Informationen liefern, sondern Geschichten erzählen, in denen der Leser Entdeckungen macht, die ihm die Welt auf den Kopf stellen. Der Leser gehört für mich zu den wenigen Figuren, die nicht dem Schema von Erfolg und Misserfolg erliegen. Der Leser ist unangreifbar. Vielleicht weil er sich gegen niemanden durchsetzen muss. Außer gegen sich selbst.

Ich erinnere mich daran, wie ich vor Jahren einmal versucht habe, Gertrude Steins Jahrhundertwerk »The Making of Americans« zu lesen. Ich fand den Beginn dieses Werkes großartig, worin ein zorniger Mann seinen Vater durch einen Obstgarten schleift. Der alte Mann ruft verzweifelt »Halt! Halt! Ich habe meinen Vater nur bis zu diesem Baum geschleift.« Dann heißt es bei Gertrude Stein lakonisch: »Es ist schwer, mit den Anlagen fertig zu werden, mit denen wir auf die Welt kommen. Wir alle fangen gut an …«

Ich wollte in dieses Buch eintauchen, in die erregend gebauten Sprachstockwerke dieser außergewöhnlichen Schriftstellerin einsteigen - und bin gescheitert. Irgendwo auf Seite 210 kam ich nicht mehr weiter. Wie sehr liebe ich so ein Misslingen.

An Büchern zu scheitern, zeigt einem, wo man steht. Es ist ein Gradmesser der eigenen Ausbildung und Reife als Leser. Vielleicht werde ich in diesem Leben Gertrude Steins Buch nicht mehr zu Ende bringen, aber es wartet als eine Herausforderung auf mich. Es ist ein Teil meiner Biographie als Leser. Es ist eine Spur in die Zukunft. Die vibrierende Möglichkeit, eine ästhetische Begegnung zu vollenden.

Ich denke, wenn mir dieses Buch in den Sinn kommt, an meinen amerikanischen Lehrer Robert Bartlett Haas, der es mir damals mitgegeben hatte, ein alter Mann, der in einem einfachen Reihenhaus zwischen Originalzeichnungen von Paul Klee, Pablo Picasso und den Handschriften seiner Freundin Gertrude Stein lebte. Er sagte zu mir: »Frag am besten nicht danach, was es bedeutet, lies einfach, tauch in den Sprachklang ein und schau, was es mit dir macht.«

Diese Aufforderung ist ein Pfad in ein gutes, immer wieder neu beginnendes Scheitern geblieben. Denn selbst wenn man Bücher bis zum Ende liest, können sie einen ausschließen, als hätte man sie nie betreten. Sie sind dazu in der Lage, uns vorsichtig und zugleich präzise darzulegen, dass es uns noch an Geschmacksnerven fehlt, um zu schmecken, was vorhanden ist.

Der argentinische Autor Julio Cortazar verglich Bücher sogar mit erlesenen Gerichten, die in einer magischen Küche lange gereift sind, ehe sie zum geistigen Gaumen gelangen: »Dieses Buch entsteht wie die geheimnisvollen Gerichte einiger Pariser Restaurants, bei denen die erste Zutat, der fond de cuisson, vor vielleicht zwei Jahrhunderten angesetzt wurde, ein Sud, der in der Folge in einem endlosen Prozess durch verschiedene Fleischsorten, Gemüse und Gewürze aromatisiert wurde, so dass er im Innersten den akkumulierten Geschmack unendlichen Brutzelns hat.«

Als Leser reift und lernt man gerade dann, wenn sich Texte noch nicht erschließen, weil die Geschmacksnerven für sie noch nicht gewachsen sind. Aus einem solchen Verständnis von Scheitern, meine ich, ließe sich einiges lernen, was auch außerhalb des literarischen Lebens von Bedeutung ist. Geduld mit Niederlagen und Vorsicht bei der Verwendung des Wortes »scheitern«.

Als ich den Essay »Der leuchtende Augenblick - Über Menschen und Orte des Lesens« schrieb, dachte ich intensiv darüber nach, warum es in der Postmoderne häufig zu einer solchen Skepsis gegenüber dem Leser gekommen ist, warum seinen Fähigkeiten und seiner Rolle häufig derart misstraut wird. Ist die Figur des selbstbewussten handelnden Lesers wirklich nur noch eine Idee des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts? Weil angeblich eine neue Generation von jungen Menschen nicht mehr liest? Weil Literatur nur noch von einer Minderheit von Menschen als wirkliche Passion erlebt und verstanden wird?

Ein Leser zu werden, ist eine schillernde Lebensaufgabe. Das Schöne ist: Man kann an ihr nicht umfassend scheitern. Man kann nur die Schlüssel liegen lassen, die hier für jeden Einzelnen ein Leben lang offen daliegen.

In diesem Zusammenhang las ich vor kurzem über eine faszinierende Installation des Künstlers Kutlug Ataman, der in einer großen Halle in London, einer ehemaligen Postsortierstelle, 40 Fernsehmonitore aufgestellt hatte. Ein Werk über die persönlichen Erzählungen von Menschen, die in einem Viertel zusammenleben. Eine Studie über den Wert der Geschichten, die jeder von uns mitzuteilen hat. Auf jedem Monitor ist ein Interview mit einem Bewohner der Siedlung Küba am Rande von Istanbul zu sehen.

Der entscheidende Punkt dieser Installation ist, dass alle Interviewten gleichzeitig sprechen. Man muss nahe herangehen, um die einzelnen Stimmen zu hören, um sie sprichwörtlich von den Lippen abzulesen, dann verlieren sie sich wieder im babylonischen Stimmengewirr der Installation.

Für mich ist dieses Kunstwerk eine wunderbare Metapher über den weiteren Begriff des Lesens. Erst im Herantreten, in der bewussten Auswahl, im genauen Hinsehen können wir etwas Struktur in den großen Lärm der globalen Welt bringen. Mit der Fähigkeit, den »Text« des Anderen zu verstehen oder zu verstehen zu versuchen, gewinnt man Nähe und eigenes Selbstbewusstsein. Umso erstaunter war ich, als ich die Interpretation einer Journalistin zu diesem Kunstwerk studierte. In ihrer Deutung zeigen sich zuverlässig alle Bestandteile von postmodernen Untergangs- und Verliererphantasien, die sich so wunderbar aufsagen lassen. Die Frage nach der Bedeutung von Erzählungen und Gemeinschaften in dieser Installation, schreibt sie, wird von dem Künstler Ataman zu einem Zeitpunkt gestellt, »an dem Gesellschaften zersplittern, Nationalstaaten untergehen und Identitäten gleichzeitig übersteigert werden und sich auflösen.«

Nichts davon stimmt in dieser Totale in der Realität. Kein einziger Nationalstaat hat sich in Europa aufgelöst (es sind eher welche hinzugekommen), Identitäten werden nicht übersteigert, sondern ständig problematisiert, und von »auflösen« kann keine Rede sein, wenn man sieht, wie stark der Wunsch nach ganzheitlicher Selbstdarstellung (etwa in sozialen Medien) in westlichen Gesellschaften ist. In der Interpretation der Journalistin werden alle zu Verlierern gestempelt. Staaten, Gesellschaften und Individuen. Und das Werk wird als Ausdruck einer reinen Krise interpretiert. Man könnte Kutlug Atamans Installation ja auch ganz anders lesen. Als vorsichtige Beobachtung einer Gesellschaft, in der alle vor sich hin, aber nur noch wenige miteinander reden. In der Menschen die Gabe des Lesens und Zuhörens vergessen haben. Daraus ließe sich eine handelnde Kritik ableiten. Hier könnten Leser beginnen, ein an Ästhetik und Genauigkeit interessiertes Gespräch zu führen.

Daher ist der Leser die mir nächste Figur. Er misstraut den Worten vom großen Verlieren. Der Leser in meinem Verständnis liest nicht nur Bücher, sondern nimmt alles, was ihm begegnet, wie einen Text wahr, der seine volle Aufmerksamkeit erfordert.

Der Leser argumentiert nicht mit der Moral, sondern mit dem, was er sieht. Er bewertet nicht mit Begriffen, sondern mit Bildern und er weiß, dass er selbst von anderen gelesen wird. Der leidenschaftliche Leser Franz Kafka hat dieses Sich-gegenseitig-Lesen in einem Brief an Oskar Pollak einmal so beschrieben: »Wenn Du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt Du von den Schmerzen, die in mir sind und was weiß ich von den Deinen. Und wenn ich mich vor Dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüsstest Du von mir mehr als von der Hölle, wenn Dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich. Schon darum sollten wir Menschen voreinander so ehrfürchtig, so nachdenklich, so liebend stehn wie vor dem Eingang zur Hölle.« Das ist vielleicht die genaueste Haltung, die man als Leser entwickeln kann.

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