nd-aktuell.de / 15.03.2014 / Kommentare / Seite 2

Das Phänomen Selbstoptimierung

Ulrike Winkelmann über die Umstellung des Alltags auf messbare Bestwerte, twitternde Journalisten und labbrige Möhren

Ulrike Winkelmann

Es muss mit dem Zwang der schreibenden Zunft zur Selbstvermarktung zu tun haben, dass alle Welt vorgibt, Selbstoptimierung sei ein neues Phänomen. Unter Selbstoptimierung ist aktuell die technische Umstellung des Alltags auf messbare Bestwerte aller Art zu verstehen. Hierzu gehören etwa die Verwendung etwa eines Schrittzählers, der kundgibt, ob man sich genug bewegt habe, oder einer Kalorienzähl-App, oder die Erfassung der Klicks auf den eigenen Texten im Netz, und so weiter.

Journalisten zum Beispiel nutzen Facebook, Twitter und so weiter, um ihre Autorenpersönlichkeit zu optimieren. Aus noch frischer Erfahrung kann die Autorin dieser Kolumne berichten, dass der Schritt ins Twitter-Universum die Wahrnehmung sowohl des Politmedienbetriebs als auch des schreibenden Selbst verändert.

So senden die Kollegen bei Twitter so viele lustige und nutzlose Fotos von ihrer Griechenland-Reise mit Bundespräsident Joachim Gauck in die Welt hinaus, dass auch dem letzten Laien deutlich wird, welche Arbeitszeitvernichtung diese journalistische Begleitung von Politikern seit jeher darstellt. Es gab einmal eine Reise mit dem damaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg nach Paris, es war dessen Antrittsbesuch dort. Die drei Dutzend mitgeflogenen Journalisten mussten derartig lange in den Vorzimmern des französischen Verteidigungsministeriums auf eine Pressekonferenz warten, dass sie beim Stehen und Starren auf die golden ornamentierten Tapeten und Vorhänge zu halluzinieren begannen.

Ein vergleichbares Problem stellte sich bei einer Reise mit einem von Guttenbergs Nachfolgern, Thomas de Maizière, in die USA. Der Minister sprach lange mit dem Chef der Militärakademie West Point. Der Journalistentross wurde derweil über das Gelände der berühmten Offiziersschule geführt. Höhepunkt war der Besuch des Speisesaals, eines gewaltigen, gotisierenden Flügelbaus. Als dieser fertig besichtigt war und die Journalisten wieder auf dem Rasen standen, fehlte aber der Minister. Deshalb führte der betreuende Offizier den Medientrupp gleich noch einmal in den Speisesaal, der war neogotisch und gewaltig.

Draußen auf dem Rasen, eine Viertelstunde später: kein Minister. Man sollte sich doch den Speisesaal anschauen, der sei gewaltig, sagte der Kollege von der »Frankfurter Rundschau«. Welches social-media-Feuerwerk wäre an diesem Nachmittag zu entfachen gewesen, wenn alle schon ihre Nutzerkonten eingerichtet gehabt hätten!

Denn das ist ja die größte Errungenschaft von Twitter und Facebook: Kein geklopfter Spruch geht mehr verloren, jeder ironische Blitz wird verewigt. Eine Zweitöffentlichkeit zur begleiteten Ministerreise ist entstanden. Es ist eine Sphäre zwischen den gewichtigen Texten, die später erscheinen, und der Privatheit des gemeinsamen Herumlungerns auf dem Rasen. Wartezeit ist jetzt eben Twitterzeit oder Livetickerzeit oder Blogging Zeit, optimierte journalistische Zeit.

Was ja aber noch lange nicht heißt, dass hier der Journalismus optimiert würde. Die Kalorienzähl-App und der Schrittmesser liefern auch erst einmal bloß Daten, aber ob und wie damit der Körper schlanker und schöner wird, wäre noch zu beweisen.

Es gibt Hausfrauen, die jahrzehntelang stolz darauf waren, nur frischestes Gemüse für den Salat zu verwenden, weil nur die unmittelbar vorm Essen geschnetzelte Möhre noch alle Vitamine enthalte. Dies bedeutete gehörigen Stress, denn die Möhren mussten geschnetzelt werden, während die Kartoffeln abgegossen und die Schnitzel ein letztes Mal gewendet wurden - wenn also ohnehin alles gleichzeitig stattfinden musste. Eine gewaltige Effizienzleistung.

Und das Ergebnis? Die Nahrungsforschung findet gerade heraus, dass weichgekochte, labbrige, sogar Konservenmöhren viel gesünder, weil besser absorbierbar sind. Die Herstellung des frischest denkbaren Mittagessens kann im Nachhinein nur noch als eine hoch entwickelte kulturelle Praxis anerkannt werden, leider ohne Zweck, mithin eine Kunstform.

Wahrscheinlich gilt dies für den Großteil der aktuell beworbenen Optimierungsfunktionen: Sie werden sich als zweckfrei herausstellen. Ihre Anwender werden sich damit trösten, dass die Produktion von Effizienzillusionen aber eine ästhetische Leistung ist. Die Optimierung von heute, sie wäre dann immerhin die Kunst von morgen.