Vom Gehen und Verschwinden

Am 20. März wird der Schriftsteller Christoph Ransmayr 60 Jahre alt

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist ein Anfangssatz, der liegt wie ein Findling im Weg. »Ich starb/ 6840 Meter über dem Meeresspiegel/ am vierten Mai im Jahr des Pferdes.« Halluzination, geboren in jener Himalaya-Landschaft, die man Todeszone nennt. Christoph Ransmayrs großartig intensiver, in Versform geschriebener Roman »Der fliegende Berg« hat just dort, wo der Mensch nicht hingehört, das Menschenlied angestimmt: das hohe Lied der Versuchung, sich an den Rändern der Erde, im kalten Kosmos einer ungerührt majestätischen Unendlichkeit seiner selbst zu vergewissern. Auf der erregendsten Weltreise, derer wir fähig sind: der Expedition ins eigene unbekannte Gemüt.

Auf und davon. Das wünscht er sich als Grabspruch. Er ist ein Reisender. Gern nennt er sich »Tourist«: Es ist just dieser sich in Bewegung setzende, in Bewegung sich erfüllende Zustand, der gegen Trägheit, Verzagtheit, Selbstsicherheit hilft: dorthin gehen, »wo vieles anders und neu ist, wo man nicht mehr verstanden wird und nichts mehr versteht«. Aber der Österreicher aus Wels, der jahrelang im irischen West Corke lebte, ist kein professioneller Abenteurer. Obwohl Reinhold Messner just dies vermutete, als er den ersten Roman des baldigen Freundes las, »Die Schrecken des Eises und der Finsternis« - dieses längst weltberühmte Buch über eine Nordpolexpedition im 18. Jahrhundert, das von der Begierde erzählt, dem Geheimnis der Unendlichkeit auf der Spur zu kommen. Solches Sinnen kann nur so enden, wie es schon der Beginn des Romans weiß: »Josef Mazzini reiste oft allein und viel zu Fuß. Im Gehen wurde ihm die Welt nicht kleiner, sondern immer größer, so groß, dass er schließlich in ihr verschwand.« Das Polarmeer als Ort der Gleichzeitigkeit - von Eroberungsfeiern und Tragödien des Erlöschens.

Denn: Immer verschwindet der Mensch in dem, was seinem Wunsch nach Größe entsprechen soll: Keine Idee rettet ihn vor der Verwitterung. Das Erzählen wenigstens, die Poesie, schützt vor vorauseilender Verzweiflung. Weil die Verzweiflung Siebenmeilenstiefel trägt und schnell an Tempo gewinnt, schreibt Ransmayr, um ihr zuvorzukommen, ganz langsam. Etwa sieben Jahre an einem Buch (»Die letzte Welt«, »Morbus Kitahara«, »Atlas eines ängstlichen Mannes«). Geschichten von Dichter-Exil, von nachkriegerischen Weltwüsten und von der Sehnsucht nach Wärme unterm Eisdach der Welt. In betörend geschliffener Sprache. Er bekam Preise, die den Namen Kafkas, Brechts, Hölderlins, Bölls tragen.

Ransmayr lebt als Schriftsteller auf der Schwelle zwischen Weltzuständen: der geografische Ort als Anlass für die Zeichnung magischer Weltbilder. Und immer schon war der Autor wassernah: Er hat in der »Dritten Luft«, einer Rede zu den Salzburger Festspielen, die atlantisch-irische Küstenlandschaft wunderbar kratzig, menschenrau und salzromantisch heraufnebeln lassen; er hat seinen ersten Theaterstoff, »Die Unsichtbare«, das Porträt einer Souffleuse, zur »Tirade an drei Stränden« geformt; er beschrieb im Monolog »Strahlenden Untergang« ein »Entwässerungsprojekt« - Wahnkälte eines obsessiven Experimentators, der unter Verweis auf den wissenschaftlichen Geist Kafkas Grauen weiterschreibt. »Spielformen des Erzählens« nennt er seine kleine Buchreihe beim S. Fischer Verlag; es liegen bereits zehn Bände vor. Das Exerzitium einer kontinuierlich betriebenen Verfeinerung, die alles (Festrede, Interview, Dramatik, Reportage) in ein ganz besonderes Regime der Einbildungskraft hinüberführt.

Der 1954 Geborene begann als Reporter bei »Geo« und »Merian«. Aber, so betont Ransmayr, »das Tempo des Aktuellen ist nicht meine Geschwindigkeit.« Er wird in seiner Leidenschaft für Landschaften also weder von Umtrieben gehetzt, noch ist er ein Länderfresser, der die Kontinente abhakt. Er bleibt ein Bilder-Maler, in dessen Sprachschatz sich exotische Farben, Namen, Klänge zum geografisch-mythischen Gewebe fügen. Klagelieder an den Sarkophagen von Sha Jahan. Eine Polarnacht in der Allerheiligenbucht von Novaja Zemlja. Die Hütten und Höhlen des Stammeskönigtums Dolpo. Verschlammte Straßen zwischen Lahugala und Kitulana. Die Basalttürme des Vulkans Piton des Neiges. Das Tal der Tempel von Agrigent. Ob tibetischer Halbnomade in rußiger Steinhütte, buddhistischer Mönch im schlammüberfluteten Wald von Banyanbäumen oder wandernder Wiener Maler in der Wildnis von Mafate - der Glaube in den Erzählwert dessen, was jeder Mensch in seinem Alltag lebt, ist bei Ransmayr unantastbar groß.

Mir unvergessen, was er vor Jahren im »nd«-Interview erzählte. Sein Vater lernte als Kriegsgefangener auf der Krim die Landessprache, las die russischen Dichter im Original. Einst ein fleißiges Armenhäusler-Kind, das aber seinem verständlichen Bildungs-Ehrgeiz, dem Elend zu entkommen und Karriere zu machen, nicht nachgab. Weil jeder Aufstieg eine Laufbahn unter den Nazis gewesen wäre. Der Vater: »Ich wollte nichts werden in diesem Staat, ich wollte unter diesen Leuten nichts werden«. Selbstverordneter Antifaschismus. Und der Sohn, aufgewachsen in der Nähe des Marmors von Mauthausen, schlussfolgert: »Wer in der Barbarei nicht glänzen will, arbeitet vielleicht nicht an der Rettung, aber doch an einer leichten, einer nur federleichten Verbesserung der Welt.« Worte, die still machen.

Heute wird der große europäische Erzähler Christoph Ransmayr sechzig Jahre alt.

Soeben erschienen: Christoph Ransmayr: Gerede. Elf Ansprachen. S. Fischer Verlag Frankfurt am Main. 102 S., geb., 12 €. Insa Wilke (Hrsg.): Bericht am Feuer. Gespräche, E-Mails und Telefonate zum Werk von Christoph Ransmayr. S. Fischer Verlag Frankfurt am Main. 320 S., Klappbrosch., 18,99 €.

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