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»Und deshalb sind deine Thesen falsch«

Hamed Abdel-Samad scheut Provokationen nicht. Den Islamismus nennt er eine faschistische Bewegung

  • Lesedauer: 10 Min.
Er steht noch immer unter Polizeischutz. Nach seinem Vortrag am 4. Juni 2013 in Kairo, in dem er der Muslimbruderschaft »islamischen Faschismus« vorwarf, wurde die Fatwa gegen ihn ausgesprochen. Hamed Abdel-Samad scheut dennoch die Öffentlichkeit nicht. »Ich muss mit der Gefahr leben, dass jeder Bekloppte, der ins Paradies kommen will, die Fatwa irgendwo vollstreckt«, sagt er im nd-Interview. Am 1. April erscheint sein neues Buch »Der islamische Faschismus. Eine Analyse« (Droemer Knaur, 224 S., geb., 18 €). Der Politologe, 1972 in Kairo als drittes von fünf Kindern eines sunnitischen Imams geboren, gehörte der Muslimbruderschaft an, bevor er 1995 in die Bundesrepublik übersiedelte. Er lehrte und forschte bis Ende 2009 am Institut für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität München; im Jahr darauf wurde er einem größeren Publikum in Deutschland durch die fünfteilige TV-Serie »Entweder Broder - Die Deutschland-Safari« bekannt. Mit Hamed Abdel-Samad sprach Karlen Vesper.

nd: Herr Abdel-Samad, was sagt Ihr Vater, ein Imam, zu Ihrer neuen publizistischen Provokation?
Abdel-Samad: Dass der Islam auf keinen Fall faschistisch ist und der Prophet kein Diktator war, sondern seine Gemeinde aus alten Strukturen befreit, alle Araber vereint und eine Hochkultur geschaffen habe: »Und deshalb, mein Sohn, sind deine Thesen falsch.«

Ihrem Buch vorangestellt ist die Widmung: »Für meine liebe Mutter. Sie bat mich, dieses Buch nicht zu veröffentlichen, obwohl sie wusste, dass ich dieser Bitte nicht nachkommen kann.« Würde auch sie mit Ihnen in einen Glaubensdisput treten?
Den führen wir seit Jahren.

Fühlen Sie sich als Missionar?
Nein, ich habe keine Mission. Ich denke, analysiere und stelle fest.

Sind Sie noch Muslim?
Ich bin ein kultureller Muslim. Man kann Erinnerung, Sprache, Kultur nicht einfach abstreifen. Ich definiere mich weder positiv noch negativ über eine Religion. Ich bin aber auch kein Atheist, denn auch das ist eine religiöse Bezeichnung.

Ihre »Bekehrung« erfolgte mit der Übersiedlung nach Deutschland?
Es war ein langer Prozess, der mit meinem Austritt aus der Muslimbruderschaft in Ägypten begann; ich hatte das Gefühl, eingeschränkt zu werden. In Deutschland wurde ich dann mit einer ganz anderen Kultur konfrontiert. Die Freiheit ist wie ein Auto, man benötigt einen Führerschein. Ich bin in dieses Auto eingestiegen und erst einmal mit Vollgas gegen die Wand gerast. Das hat mich zum Nach- und Umdenken gebracht. Und zur Loslösung von jeglicher Religion.

Sie nennen den politischen Islam »faschistisch«. Mit Verlaub, ich kann Ihnen schwerlich folgen. Zumal für mich der historische Faschismus eine singuläre Ungeheuerlichkeit ist.
Wieso singulär? Gab es Faschismus nur in Deutschland?

Natürlich nicht. Mussolini machte mit seinen 1919 gegründeten »Fasci italiani di combattimento« den Anfang, es gab Franco und Salazar ...

Und in Polen Józef Piłsudski. Es gab den kroatischen und japanischen Faschismus, also viele Faschismen. Faschismus ist nicht nur der Mord an sechs Millionen Juden durch die deutschen Nazis. Faschismus ist eine Geisteshaltung, beinhaltet bestimmte Ziele und weist eine konkrete Organisationsstruktur auf: Ein charismatischer Führer, der im Besitz der absoluten Wahrheit ist, verlangt unbedingten, blinden Gehorsam von seinen Anhängern. Der Führer darf nicht in Frage gestellt werden, ist mit dem heiligen Auftrag ausgestattet, die Feinde zu besiegen und die Nation zu einen. Der Führer vergiftet seine Anhänger mit Ressentiments gegen die Feinde, gegen den Rest der Welt. Der Faschismus geht von einer moralischen und rassischen Überlegenheit des eigenen Volkes über andere Völker aus. All das findet sich haargenau im Islamismus. Die Gründer der Muslimbruderschaft hatten Hitler und Mussolini als Vorbilder. Sie schufen eine Terrormiliz nach dem Vorbild der SS und SA, um die Gesellschaft einzuschüchtern. Sie rufen zum ewigen Dschihad auf: Man kämpft nicht, um zu leben, sondern man lebt, um zu kämpfen. Der Kampf wird mystifiziert, der Märtyrer glorifiziert. Im Faschismus wie im Islamismus. Man kann einwenden, der Faschismus war für den Tod von Millionen verantwortlich. Wie viele Opfer verschlang der 1991 von Islamisten angezettelte Bürgerkrieg in Algerien?

Schätzungen gehen von bis zu 150 000 aus.
Hinzu kommen die Opfer von Bürgerkriegen in Afghanistan, Sudan, Irak und Jemen... Mehrere Zehntausend in den letzten 20 Jahren.

Woran der Westen nicht unschuldig ist, durch den Sturz oder Mithilfe beim Sturz säkularer Regime.
Saddam Hussein war nicht säkular. Er hat Religionen misstraut, aber die Religion missbraucht und sich als gläubiger Anführer der Araber bezeichnet. Hitlers »Mein Kampf« und die gefälschten »Protokolle der Weisen von Zion« sind in der arabischen Welt Dauerbestseller. Es genügt, daran zu erinnern, dass die Muslimbrüder mit Nazideutschland zusammengearbeitet haben und der Mufti von Jerusalem zur Unterstützung Hitlers den Dschihad ausgerufen hat.

Viele Führer nationaler Befreiungsbewegungen hofften irrigerweise auf deutsche Unterstützung bei der Abschüttelung des kolonialen Jochs der Briten und Franzosen, so Subhas Chandra Bose in Indien.

Hitler war auch anti-kolonial.
Das bestreite ich. Die Eroberung von »Lebensraum im Osten«, angeblich für das deutsche Volk, in Wahrheit für das Kapital, war kolonialer Imperialismus oder imperialistischer Kolonialismus pur. Und er schickte seinen »Wüstenfuchs« Rommel gewiss nicht nach Afrika, um die dort unterdrückten Völker zu befreien.

Das ist eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Faschismus und Islamismus. Die Islamisten wollen die Welt erobern, kontrollieren und moralisch uniformieren. Das Osmanische Reich war eine Kolonialherrschaft in Europa, auf dem Balkan, in Griechenland.

Das erste arabische Weltreich, nach den Eroberungen des achten Jahrhunderts, erstreckte sich von der Iberischen Halbinseln über Nordafrika und die Arabische Halbinsel bis hin zum einstigen Ostrom. Überliefert ist, dass eine gewisse Toleranz herrschte, Muslime, Christen, Juden friedlich zusammenlebten.
Das war auch Kolonialismus. Und die Toleranz ist Legende. Die Idylle bestand ungefähr 80 Jahre. Es folgten fürchterliche Pogrome, in Granada wurden in einer Nacht 4000 Juden umgebracht.

Pogrome gab es auch während der christlichen Kreuzzüge. Sie sprachen vom Dschihad als Kampf. Andere interpretieren Dschihad als Bemühen auf dem Weg Gottes im Sinne der Vervollkommnung als Individuum - und nicht »Heiliger Krieg«.
Das behaupten muslimische Intellektuelle, um ihre Religion zu verteidigen und zu verniedlichen. Der Dschihad, wie er im Koran steht und in der islamischen Geschichte praktiziert wurde, bedeutet Kampf und Vernichtung der Ungläubigen sowie die Islamisierung der Welt. Dieser Begriff ist Kern der Krankheit. Wenn man eine Krankheit heilen will, muss man zunächst die richtige Diagnose stellen. Ich höre immer nur: Nicht wir waren oder sind schuld, sondern der Westen, der Kolonialismus, der Imperialismus, Israel ... Immer sind die anderen schuld. Sinn der Verschwörungstheorien ist es, sich selbst als Opfer zu stilisieren. Mit dieser Haltung kommen wir aber nicht weiter.

Der Koran spricht von »Dhimmis«, Schutzbefohlenen, womit Nichtmuslime gemeint sind. In den kriegsgebeutelten Ländern Irak und Syrien werden Juden und Christen von Islamisten angegriffen. Die Fundamentalisten sind also die eigentlichen Ungläubigen, weil sie gegen den Koran verstoßen?
Die juristische Institution Dhimma bedeutet nicht, dass Juden und Christen die gleichen Rechte und Pflichten wie Muslime haben, sie sind unter muslimischer Herrschaft Bürger zweiter Klasse, werden von der Armee ausgeschlossen und bezahlen doppelt so viel Steuern. Wenn sie auf einem Tier reiten, müssen sie absteigen, sobald ihnen ein Muslim entgegenkommt. Sie dürfen keine höheren Häuser bauen als die Muslime. Und das führen die Islamisten jetzt wieder in den von ihnen eroberten Gebieten Syriens ein.

Ihr Vergleich von Islamismus und Faschismus ist auf die Ideologie und äußere Erscheinungen begrenzt, vernachlässigt die sozialökonomische Komponente. Wir wissen, wer die Steigbügelhalter und Finanziers von Hitler waren. Im ureigenen Interesse: zur Erzwingung eines »Klassenkompromisses« und zur Eroberung der Ölfelder auf der Krim und der Kohlegruben im Donezk beispielsweise.
Ich vergleiche nicht nur die Ideologien, sondern auch die Organisationsstrukturen und die Geldgeber. Die ersten Schergen der Nazis wurden von den großen Firmen angeheuert, um Streiks der Arbeiter zu zerschlagen. Die ersten muslimischen Milizen wurden auch von Großgrundbesitzern oder Firmeninhabern angeheuert, um Demonstrationen und Streiks zu zerschlagen. Als eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Faschismus und Islamismus sehe ich den Antikommunismus. Und zum Schluss vergleiche ich die Ziele: Was wollten die Faschisten erreichen? Was wollen die Islamisten? Beide versuchen, die Geschichte zurückzurollen, zu traditionellen veralteten Lebensformen, zu Uniformierung und Entindividualisierung zurückzukehren. Faschismus und Islamismus sind eine Konterrevolution gegen die Moderne und gegen die Aufklärung.

Eine weitere Parallele ist die nationale Kränkung. Der Faschismus begann in den verspäteten Nationen Italien und Deutschland. Es gab zwar auch faschistische Bewegungen in Frankreich, England und in den skandinavischen Staaten, aber die zündeten nicht so sehr. Die Islamisten empfinden die Zerschlagung des Osmanischen Reichs nach dem Ersten Weltkrieg als historische Demütigung und wollen an dessen glorreiche Zeiten anknüpfen wie Mussolini an die Herrlichkeit des alten Römischen Reiches. Aus Ohnmachtsvisionen erwachsen Allmachtsvisionen, das Dynamit der Ideologie.

Islamismus gibt es nicht erst seit den 1920er Jahren, sondern gab es schon im 18. Jahrhundert, als die Arabische Halbinsel von den Wahhabiten unterworfen wurde. Ein wesentlich später entstandener Begriff wird von Ihnen auf ein historisches »Phänomen« aufgesattelt.
Mir ist bewusst, dass es problematisch ist, eine 1400 Jahre alte Religion mit einem modernen Begriff zu charakterisieren. Aber wenn man mir mit Aussagen des Propheten kommt, um mein Leben, unser Leben, die gesamte Gesellschaft zu normieren, darf ich mit Wörtern des 20. oder 21. Jahrhunderts antworten. Ich gehe in meinem Buch zurück bis zum Propheten, untersuche die verschiedenen Phasen islamischer Geschichte, streife auch die Zeit der Sultanate. Ja, es gab Zeiten, in denen man sich von der Scharia entfernt hat, Christen, Juden, Muslime nebeneinander lebten und Muslime Wissenschaft und Philosophie betrieben.

Ohne die muslimischen Gelehrten hätte es die Renaissance in Europa nicht gegeben, sie gaben uns den Missing Link zur Antike zurück.
Zweifellos. Aber in Zeiten der Krisen werden Freiheiten eingeschränkt und man versucht, die Scharia wortwörtlich zu nehmen. Ausländische Bücher werden nicht mehr übersetzt, denn das gesamte Wissen befindet sich im Koran. Von der Erfindung des Buchdrucks hat die ganze Welt profitiert, nur nicht die islamische, denn sie lehnte sie ab - aus Angst. Der Buchdruck brach das Wissensmonopol der Kirchen und Herrschaften, denn er privatisiert und verbreitet Wissen. Der Kern des Dilemmas: Aus Angst um die religiöse Identität isoliert man sich von der Welt, verschließt sich dem Weltwissen. Die islamische Welt verschlief zwischen Gutenberg und Zuckerberg 500 Jahre.

Das wurde von muslimischen Denkern durchaus erkannt, etwa von Dschamal al-Afghani, der im 19. Jahrhundert eine Reformierung und Modernisierung des Islam anstrebte. Und mit seinem Panislamismus auch einen politischen Islam vertrat, aber keinen faschistischen.
Er hatte ein politisches Konzept, allerdings ein unvollkommenes. Sein Schüler war Raschīd Ridā, der wiederum der Lehrer von Hasan al-Bannā war, Gründer der Muslimbrüder. Nun kann man fragen: Was kann al-Afghani dafür, was seine Schüler aus seinen Ideen machen? Das Problem ist aber schon bei ihm angelegt. Eine moderne Gesellschaft kann man nicht auf Religion aufbauen. Das Fundament muss Humanismus sein.

Und vor allem ist die Trennung von Staat und Religion zu fordern, die in Deutschland selbst nicht konsequent eingehalten wird.
Der Islam muss zurückgedrängt werden. Auch in Europa hat sich die Kirche nicht freiwillig zurückgezogen, sondern wurde von der politischen Macht verdrängt.

Voltaire rief: »Écrasez l’infâme!« Zermalmt das Niederträchtige.
Richtig. Keiner, der die Macht hat, gibt diese freiwillig ab. Wir müssen die Unantastbarkeit der Religion angreifen. Aller Anfang ist schwer. Und Gott wird uns dabei nicht helfen.

Und kein Kaiser noch Tribun. Was sagen Sie zu den Todesurteilen in dieser Woche in Kairo an über 500 Muslimbrüdern?
Das ist ein Justizmassaker. Und ein großer Fehler. Ich verstehe die Psychologie: Es soll der Abschreckung dienen. Aber man schafft wieder neue Märtyrer. Um diese spinnen sich dann neue Legenden, mit denen eine Generation von Gotteskriegern aufwächst. Ein Teufelskreis.

Haben Sie Angst vor Beifall von falscher Seite? Und hat Hendrik M. Broder schon bei Ihnen angerufen?
Er hat das Buch noch nicht gelesen. Als Schriftsteller kenne ich die Gefahr von Beifall sehr gut. Ich bin nicht süchtig nach Beifall. In meinem Buch kritisiere ich nicht nur den Islam, sondern auch Sarrazin, der wie Erdogan die Gesellschaft zurückführen will zur Monokulturalität, zu einem veralteten Gesellschafts- und Menschenbild. Ich biete keine fertigen Lösungen an. Ich halte es mit Karl Kraus: Ich kann keine Eier legen, aber ich kann erkennen, wenn ein Ei faul ist.

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