nd-aktuell.de / 03.04.2014 / Kultur / Seite 17

Gewinn und Verlust

Anton Hiersche erzählt in einem imponierenden Band mehr als nur seine eigene Lebensgeschichte

Karlheinz Kasper

Anton Hiersche hatte das Glück, von 1959 bis 1991 an der Akademie der Wissenschaften der DDR arbeiten zu können. Als Mitherausgeber fundamentaler Publikationen, wie der beiden Bände »Literaturtheorie und Literaturkritik in der frühsowjetischen Diskussion«, durch Aufsätze und Vorträge, vor allem durch seine Bücher »Sowjetliteratur und wissenschaftlich-technische Revolution« und »Sowjetische Dorfprosa«, erwarb er sich großes Ansehen.

In einem imponierenden Erinnerungsband erzählt er jetzt die Geschichte seines Lebens, das vom Gewinn und Verlust eines Traums geprägt wurde. Dieser Traum war mit der Sehnsucht nach einem selbstbestimmten, sozial gerechten und schöpferischen Dasein in einem sozialistischen Staat verbunden. Er spricht offen über die großen Hoffnungen seiner Generation und berichtet ehrlich von den Enttäuschungen, denen er, wie viele Gleichgesinnte, ausgesetzt war. Er ist tolerant gegenüber den Menschen, die andere Erwartungen hatten, wenig Verständnis für seine Ideale und seinen Weg zeigten. Seinen Traum hat er verloren, seine Grundvorstellungen vom Leben aber nicht aufgegeben.

Wer die Kompositionsstruktur der Erinnerungen betrachtet, könnte den Eindruck gewinnen, dass Hiersches Weltbild nachhaltig von geografischen Faktoren bestimmt wurde. Böhmen prägte die Kindheit des Jungen, der 1934 als sechstes Kind einer deutschen Bauernfamilie in Böhmisch-Kahn geboren wurde und als Zwölfjähriger die wiedererstandene Tschechoslowakei verlassen musste. Pommerland, das Dorf Grambin am Stettiner Haff, nahm ihn auf, die Lehrer von Ueckermünde, Torgelow und Greifswald vermittelten ihm neues Selbstbewusstsein.

Trat er in die FDJ ein, um zu tanzen, wurde er im Sommer 1954 Kandidat der SED, weil ein Freund ihm dazu riet. Das Slawistikstudium erfolgte »an der Saale hellem Strande«, im Hallenser Tschernyschewski-Haus, gegenüber der Moritzburg. Sprache, Literatur, Kunst und das »Gewi«-Grundstudium, Hilfsassistententätigkeit, eine FDJ-Funktion, GST-Lager, Praktika und die Liebe zu seiner Frau Erika füllten den Alltag des Studenten aus. Überzeugungen und Zweifel begleiteten den geistigen Reifeprozess auch in den drei Jahrzehnten erfolgreicher wissenschaftlicher Tätigkeit »zwischen Spree und Moskwa«. In den Jahren 1990/91, die von Neologismen wie »BAT Ost«, »Evaluierung«, »Abwicklung«, »Wissenschaftler-Integrationsprogramm«, »Arbeitsamt« und »Altersübergang« überschattet wurden, bildete Berlin den Hintergrund für das letzte und traurigste Kapitel des Buches: »Ein gut Teil unseres Lebens, unserer Hoffnungen, wurde in Trümmer gehauen.«

Hiersches Buch bietet mehr als die Geschichte eines jungen Mannes, der die DDR für das bessere Deutschland hielt und dort aufgrund seiner Begabung und seines Fleißes und dank der bestehenden Möglichkeiten als Wissenschaftler Karriere machte. Schon in der Vorbemerkung zu dem Buch ist die Rede von einem Konflikt zwischen der vermeintlich sicheren Position einer »wissenschaftlichen Weltanschauung« und dem tiefen Misstrauen gegenüber »unumstößlichen Wahrheiten« und deren Predigern, einem Konflikt, der durch Kollisionen mit der Realität entsteht und unablässig vertieft wird. Nicht umsonst sagt das Motto zu dem Buch, dass der Mensch ein Gefangener seiner Zeit sei und jede Generation »angekettet an ihre Epoche« lebe.

Als Bürger der DDR und Genosse sah sich Hiersche mit den Höhen und Tiefen unserer Geschichte konfrontiert. Deshalb lösten solche Tiefpunkte wie die Erklärung der Verbrechen Stalins mit dem Euphemismus »Personenkult«, die Verharmlosung des Volksaufstandes in Ungarn, die Verhaftung Wolfgang Harichs und einiger Leipziger und Hallenser Intellektueller, die überspitzte Aktion »sozialistische Universität« und die wiederholte Einschränkung der Bürgerrechte und der geistigen Freiheit durch die Partei in ihm immer wieder die quälende Frage aus, warum er seine Zweifel unterdrückt, sich nicht gewehrt, oft geschwiegen hat.

Hiersches Buch trägt den Untertitel »Erinnerungen eines Slawisten«. In der Tat ist es nach den Memoiren von Fritz Mierau, Ralf Schröder und Leonhard Kossuth die bislang umfangreichste Geschichte der Slawistik in der DDR, aus einer Perspektive, die teilweise weit über den Rahmen des persönlich Erfahrenen hinausgeht. Hiersche gibt nicht nur Einblick in die Arbeit der Akademie der Wissenschaften und des 1969 geschaffenen Zentralinstituts für Literaturgeschichte, das Germanisten, Romanisten, Anglisten und Slawisten vereinte und über 200 Mitarbeiter zählte. Er liefert auch einen Abriss über die Zusammenarbeit zwischen Akademie und Hochschulinstitutionen sowie ausländischen Kollegen und über zahlreiche nationale und internationale Konferenzen und Kongresse, die die Entwicklung der Fachdisziplin jahrzehntelang entscheidend mitbestimmt haben. Das erzwungene Ende der wissenschaftlichen Tätigkeit löst bei Hiersche einen absurden, aber allen Betroffenen verständlichen »Aufschrei der Erleichterung« aus: Das Gefühl der Freiheit ist stärker als die erlittene Kränkung.

Anton Hiersche: Wie ein Traum verloren wurde. Erinnerungen eines Slawisten. Verlag am Park. 551 S., m. Abb., br., 24,90 €.