nd-aktuell.de / 04.04.2014 / Politik / Seite 10

Die Angst vor der Angst ist noch zu spüren

Gabriele Eissenberger legte ein lesenswertes Buch über Chile und die internationale Solidarität in der Diktatur vor

Jan Tölva
Chile in der Zeit der Pinochets war einer der ersten Großversuche neoliberaler Umstrukturierung. Er ist gescheitert. Nach 16 Jahren Diktatur haben sich die Gewerkschaften noch immer nicht ganz erholt.

»Mehr als nur ein Stück Geschichte Chiles« will Gabriele Eissenberger mit ihrem gleichnamigen Buch erzählen, das von der Solidaritätsarbeit für Chile durch die Hans-Böckler-Stiftung und deren Stipendiaten handelt. Um die Geschichte dieser erzählen zu können, muss jedoch ein wenig weiter ausgeholt werden, denn ohne ein grundlegendes Verständnis der Geschehnisse in Chile selbst lässt sich nur schwerlich verstehen, weshalb und auf welche Weise Menschen in der Bundesrepublik versucht haben, chilenischen Gewerkschaftern durch aktive Solidarität zu helfen.

Die Autorin hat ihrem Buch daher eine ebenso so simple wie funktionale Struktur gegeben. Für jeden Zeitabschnitt neu, gibt sie zunächst eine Zusammenfassung der Geschehnisse in der chilenischen Gesellschaft, legt dann dar, wie sich diese auf die Gewerkschaftsbewegung ausgewirkt haben, und beschreibt schließlich, was all das für die hiesige Solidaritätsarbeit bedeutete. Sie zeichnet dabei das Bild einer Gesellschaft, in der 16 Jahre Diktatur großen Schaden angerichtet und Narben hinterlassen haben, die in weiten Teilen bis heute spürbar sind.

Es ist wenig verwunderlich, dass Eissenbergers Perspektive eine kritische ist. Alles andere wäre wohl auch unangebracht angesichts Tausender Ermordeter und mehrerer Zehntausend Fälle zum Teil schwerster Folter. Doch auch die Wirtschaftsordnung, zu der die Gewerkschaften ja gehören, im Chile der Ära Pinochet verdient besondere Aufmerksamkeit. Genau hier nämlich fand damals der bis dahin größte Versuch statt, ein neoliberales Wirtschaftssystem zu etablieren. Unter der Aufsicht der »Chicago Boys«, einer Gruppe chilenischer Ökonomen, die bei Milton Friedman, dem späteren Berater Ronald Reagans, studiert hatten, war Chile für mehrere Jahre eine Art Versuchsanstalt für Deregulierung und Privatisierung und damit Vorbild für unzählige Länder, die in den Jahren darauf dem Internationalen Währungsfonds oder einer rechten Regierung in die Hände fielen.

Dabei ist der neoliberale Großversuch in Chile im Grunde auf breiter Front gescheitert. Nicht nur hat er einen großen Teil der Bevölkerung in zum Teil bittere Armut gestürzt - das alleine würde wohl kaum einen Anhänger des Neoliberalismus wirklich stören. Die Wirtschaft ist viel mehr regelrecht zusammengebrochen. Erst als die Militärregierung entgegen dem neoliberalen Dogma doch und zwar massiv in das Wirtschaftsleben eingriff und die Staatsquote auf ein Niveau trieb, das über dem der Zeit Allendes lag, kam es zu einem tatsächlichen Aufschwung.

Die brutale Zerschlagung der Gewerkschaftsbewegung hingegen war von nachhaltigem Erfolg gekrönt. Selbst nach Ende der Diktatur hatten die Gewerkschaften nicht mehr die politische, oft klassenkämpferische Ausrichtung wie früher. Sie sahen sich viel mehr - dem bundesdeutschen Vorbild nicht ganz unähnlich - als Sozialpartner, die gemeinsam mit den Arbeitgebern Verantwortung für das Land und den Standort zu übernehmen hatten. Die damals entstandene »Angst vor der Angst«, wie Gewerkschaftsführer Manuel Bustos es einmal nannte, ist auch heute noch vielerorts zu spüren in Chile.

Dass die Gewerkschaftsbewegung sich aber überhaupt durch die Zeit der Diktatur hat retten können, daran hatte die internationale Solidaritätsbewegung einen großen Anteil. Die Hans-Böckler-Stiftung und ihre Stipendiaten etwa unterstützen maßgeblich die Ausreise politischer Gefangener ins bundesdeutsche Exil, schufen öffentliches Bewusstsein für die Situation vor Ort und unterstützen auch aktiv und finanziell den Wiederaufbau gewerkschaftlicher Strukturen. Eissenberger gelingt es all das zu dokumentieren; vor allem aber gelingt es ihr die Bedeutung gelebter internationaler Solidarität zu verdeutlichen, und das ist in Zeiten wie diesen alles andere als unwichtig.

Gabriele Eissenberger: Nicht nur ein Stück Geschichte Chiles. Westfälisches Dampfboot, 2014, 200 S., 24,90 Euro