An der Spitze der Schlange

  • Robert Rescue
  • Lesedauer: 3 Min.

Ich bin ein Hartz-IV-Aufstocker, allerdings erzähle ich niemandem, womit ich mein Geld verdiene und wo ich arbeite. Bei Ihnen mache ich mal eine Ausnahme.

Ich halte mich täglich, außer Mittwoch, im Jobcenter Mitte auf. Ich bin keiner der Sachbearbeiter am Servicecounter, auch gehöre ich nicht zu den Leuten vom Sicherheitsdienst, und ich bin auch nicht der dicke, verschwitzte Mann, der im Warteraum einen Bücherstand betreibt und den Kunden damit die Wartezeit verkürzt. Die Leute vom Sicherheitsdienst beäugen mich jeden Tag misstrauisch. Sie können nicht glauben, dass sich jemand freiwillig hier aufhält. Wahrscheinlich wissen sie, was ich hier so treibe, aber sie haben keine Handhabe gegen mich. Ich tue das, was alle Kunden des Jobcenters machen - warten.

Meine Arbeit beginnt morgens um 8.30 Uhr, wenn die erste Warteschlange hereingelassen wird. Der Stau drinnen verläuft durch einen Raum, der mit Absperrseilen in ein Gangsystem unterteilt ist. Steht man am Anfang, so braucht man etwa eine Stunde, bis man vorne angekommen ist und vom Sicherheitsdienst zu den freiwerdenden Countern gelotst wird. Auf den letzten Metern fängt dann mein Job an. Meist steht hinten in der Schlange jemand, der deutlich den Eindruck macht, im Stress zu sein, oder der keine Lust hat, hier anzustehen, oder beides. Den winke ich zu mir heran. Und nach einem kurzen Flüstern sowie einer verdeckten Handreichung nimmt er meinen Platz ein und ich wechsele an das Ende der Schlange. So läuft es im günstigsten Fall. Wenn ich wieder auf die vorderen Plätze gerückt bin, erscheint entweder ein Stammkunde oder ich erspähe einen anderen Wartenden, der bereit sein könnte, für eine Verbesserung seiner Platzierung 10 Euro zu zahlen.

Schlecht läuft es dagegen für mich, wenn ich zum Servicecounter gewiesen werde. Entweder gehe ich nach vorne und lasse mir irgendein Formular oder eine Auskunft geben oder ich drehe eine kleine Runde in Richtung Ausgang und reihe mich wieder hinten ein.

Am Vormittag habe ich wenig Kunden. Aber ab 11 Uhr kommen die »letzten S-Bahnen«, wie sie der Sicherheitsdienst nennt. Das sind die Spätaufsteher, die sich noch rechtzeitig einreihen wollen, bevor das Jobcenter ab 12.30 Uhr niemanden mehr reinlässt. Das sind meine liebsten Kunden, denn die sind so genervt, dass sie hier erscheinen müssen, dass sie sogar 20 Euro zahlen, um schnellstmöglich den Ort wieder verlassen zu können.

Alle halbe Jahre passiert es, dass ich in der Schlange stehe, ohne Geld damit zu verdienen. Dann habe ich selbst einen Termin und lasse natürlich niemanden auf meine Position vorrücken. Allerdings wünsche ich mir in diesen Momenten, dass jemand anderes die gleiche Dienstleistung wie ich anbietet. Doch niemand hält sich freiwillig hier auf. Schade, denn ich würde gut dafür bezahlen.

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