Von Europa ist nur der Euro geblieben

Der Philosoph Étienne Balibar über die fehlende soziale Dimension der EU und gefährliche Kritik von links

  • Lesedauer: 7 Min.

nd: Was hat die Eurokrise aus Europa gemacht?
Balibar
: Die gegenwärtige Krise, die als globale Finanzkrise begann und dann zu einer europäischen Banken- und Staatsschuldenkrise wurde, hat gezeigt, dass das europäische politische System nicht im Stande ist, auf die wirtschaftliche Herausforderung demokratisch zu reagieren.

Sondern?
Die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank versuchten und versuchen, eine Art von autoritärer Legitimität außerhalb demokratischer Prozesse zu erzeugen und ihre Politik durch eine Revolution von oben durchzusetzen. Zu deren Auswirkungen gehören die institutionellen Widersprüche der EU, die riesigen Diskrepanzen zwischen den verschiedenen Ländern der EU und nicht zuletzt die gravierenden sozialen Auswirkungen der Politik, mit der versucht wird, der Krise Herr zu werden.

Was sagt dieses Krisenmanagement also über die EU aus? Hat sie eine Zukunft?
Dieses Handeln und seine Auswirkungen haben auch eine moralische Dimension, nämlich die Delegitimierung der europäischen Institutionen und des europäischen Projekts und eine tiefgehende Verunsicherung unter vielen Menschen in Europa. Das gilt nicht nur im Süden, sondern in ganz Europa - auch in Frankreich. Unter bestimmten Umständen kann dies zu extremen Auswüchsen führen. Dabei ist die Finanzkrise immer noch nicht wirklich vorbei, und weder in Europa noch auf globaler Ebene sind die Probleme, die zur Krise geführt haben, gelöst.

Die Reaktion auf die Krise war von der politischen Leitlinie der Austerität geprägt. In Griechenland, Italien, Spanien und sogar in Frankreich wird im Namen Europas umstrukturiert, privatisiert, werden Löhne gekürzt, Sozialleistungen beschnitten, Arbeitnehmerrechte wegreformiert.
Ja, natürlich. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Und wenn Sie ausschließlich auf diese eine Seite blicken, dann landen Sie unmittelbar bei dem sehr verbreiteten Anti-Europäismus, der - auf verstörende Weise - von Leuten auf der radikalen Linken und radikalen Rechten geteilt wird. Wir sollten diesen Aspekt - die EU als neoliberale Strukturanpassungsmaschine - auf keinen Fall verleugnen, aber wir müssen ihn in einen größeren Zusammenhang setzen und die europäische Integration als historischen Prozess betrachten, um ihre inneren Widersprüche zu sehen.

Was ist für Sie das Gefährliche an einer derart »einseitigen« EU-Kritik?
Ich bestehe auf der Bedeutung einer globalen Perspektive und weigere mich, mich zwischen dem blinden Verfechten des europäischen Projekts - vor allem wie es sich derzeit entwickelt - und einer rein antieuropäischen Position entscheiden zu müssen. Letztere spielt im Endeffekt dem Nationalismus in die Hände, den es heute in allen Ländern Europas gibt und der eigentlich nur selbstzerstörerische Wirkung haben kann.

Was schlagen Sie stattdessen vor?
Der Ausweg ist, darauf zu bestehen, dass es Alternativen gibt. Nun kann man sagen, dass diese Alternativen, die ich aufzeichne, sehr hypothetisch sind oder davon abhängen, dass sich die sozialen und politischen Kräfteverhältnisse in Europa ändern, was im Moment nicht sehr wahrscheinlich ist. Und natürlich ist meine Sicht der Dinge eher pessimistisch, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass die Krise sich nicht verschlimmern wird.

Die Linke tut sich schwer, klare und überzeugende Positionen zu Europa zu entwickeln.
Es wäre wichtig für die Linke, nicht nur dem antieuropäischen Ressentiment zu widerstehen, sondern darüber hinaus konstruktiv zu sein, alternative Visionen und Vorschläge hervorzubringen, so kohärent und konsistent das eben möglich ist. Das ist auch einer der Gründe, weswegen ich mich freue, dass der Parteivorsitzende des griechischen Linksbündnisses SYRIZA, Alexis Tsipras, bei der Europawahl zumindest symbolisch als Kandidat für die Präsidentschaft der Europäischen Kommission antritt: radikal kritisch dem gegenüber, was die EU-Maschine der Strukturanpassung angeht, aber zugleich mit der Forderung nach politischen und institutionellen Veränderungen der europäischen Konstruktion und nicht ihrer bloßen Auflösung oder Zerschlagung.

Was halten Sie von Vorschlägen, die Europäische Union wieder zurückzubauen und den Euro zu verlassen?
Ich glaube, dass die europäische Integration zumindest teilweise unumkehrbar ist, wegen der wechselseitigen Abhängigkeiten der verschiedenen Länder, ihrer Gesellschaften und Wirtschaften, weshalb ich sogenannte »souveränistische« oder nationalistische Positionen für vollkommen abstrakt und ideologisch halte. Andererseits ist mir natürlich klar, dass die EU als transnationales Gefüge trotzdem auseinanderbrechen kann. Nichts ist in völlig unerschütterlicher Form gebaut.

Haben Sie dazu ein bestimmtes Szenario im Kopf?
Ich möchte einen Vergleich bemühen, der vielleicht auf den ersten Blick lächerlich wirkt, und zwar der zwischen Sowjetunion und Europäischer Union: Die SU und die EU sind nunmal die zwei Beispiele für transnationale Gefüge in Europa, die zu der Geschichte des 20. Jahrhunderts gehören. Beide wurden um ein ökonomisches Dogma herum aufgebaut, das wie ein politischer Mythos funktionierte: Im Fall der SU war das die Planwirtschaft, im Fall der EU ist es das neoliberale Dogma des allmächtigen Marktes ohne Beschränkungen. In beiden Fällen wurde und wird das ökonomische Dogma blind angewandt, was zu krisenhaften politischen Auswirkungen führt. Der Vergleich zeigt, wie schwierig es ist, eine supranationale politische Einheit aufzubauen, und dass, wenn ein zumindest teilweise irreversibler Einigungsprozess einmal vollzogen wurde, ein Kollaps zu katastrophalen Situationen führen kann.

In der deutschen Linkspartei gab und gibt es teilweise heftige Diskussionen über die Bewertung der Europäischen Union. Eine Position betonte die Natur der EU als neoliberal, militaristisch und undemokratisch, während die andere versuchte, eine zu rettende Idee Europas von der real existierenden EU abzuheben.

Als Erstes muss ich zugeben, dass ich leider über die Diskussion in Deutschland nicht genug weiß, insbesondere über die in der LINKEN. Das selbst besagt natürlich einiges über die Schwäche der heutigen radikalen Linken in Europa ... Nun, meine Position wäre die: Ich würde nicht abstreiten, dass die EU eine kapitalistische und imperialistische Konstruktion ist. Nur: Wo gibt es denn in unserer Welt heute eine Regierung, eine staatliche Institution, die keine kapitalistische und imperialistische Konstruktion wäre? Von welchem Standpunkt wird denn diese Kritik formuliert? Heißt das, dass der Nationalstaat in seiner derzeitigen Form weniger imperialistisch oder weniger ein Werkzeug der kapitalistischen Globalisierung als die EU wäre? Oder ist es von einer Warte aus gesprochen, die eine utopische, ganz andere Regierung herbeisehnt?

Welche Konsequenzen hätten die eine und die andere Sichtweise?
Wenn Ersteres der Fall ist, dann weise ich das vollkommen zurück. Ich sehe keinen Grund, warum wir die Nationalstaaten heute Europa vorziehen sollten, und ich sehe nicht, wie sie weniger vom globalen Finanzkapitalismus abhängig sein könnten als die EU, vielleicht sogar eher mehr. Wenn Zweites der Fall ist: Ja, ich verteidige die Idee, dass wir für radikale Veränderung eintreten müssen. Meine Position ist, dass wir auf allen Ebenen für diese Alternativen, diese revolutionäre Veränderung arbeiten müssen. Wenn wir die Idee aufgeben, dass die Alternativen nicht nur auf nationaler, sondern auch auf der transnationalen Ebene Europas realisiert werden sollen, dann begeben wir uns von Anfang an - angesichts der derzeitigen Herausforderungen - in eine Position absoluter Schwäche.

Eine der Forderungen linker Parteien, aber auch der Gewerkschaften ist die nach »einem sozialen Europa« oder gar einem europäischen Sozialstaat. Davon sind wir derzeit aber doch sehr weit entfernt.
Allerdings. Die Idee des europäischen Sozialstaats oder des »sozialen Europas« ist seit vielen Jahren Teil der ideologischen Agenda der europäischen Integration und hat dadurch an Glaubwürdigkeit eingebüßt, dass sich Europa davon entfernt hat, anstatt sie zu verwirklichen. Die Weichen hierfür wurden in den 1970ern und 1980ern gestellt, und am Ende ist von den zwei Säulen der Union - gemeinsame Währung und soziales Europa - nur der Euro übrig geblieben. Der bereitet uns jetzt alle möglichen Probleme, während das »soziale Europa« im Stadium der Absichtserklärung verblieben ist. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass ein Europa ohne eine soziale Dimension der Wohlfahrt auf europäischem Niveau kollabieren wird.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal