nd-aktuell.de / 10.04.2014 / Politik / Seite 8

Rückkehr zur Solidarität in Bosnien?

Wenig Hoffnung auf Veränderungswillen von Politikern, die das Land in die Katastrophe getrieben haben

Jerko Bakotin
Erstmals seit dem Ende des Bürgerkriegs lehnten sich Bürger Bosnien und Herzegowinas im Februar gegen ihre Politiker auf.

Zwei Monate nach Ausbruch der größten sozialen Proteste in der Geschichte des Landes versammelten sich am Mittwoch in Sarajevo Bürger der Föderation Bosnien und Herzegowina zu einem Plenum, um ihre Forderungen an die Regierung der größeren der beiden »Entitäten« des Landes zu formulieren. Gefordert werden nach wie vor die Aufhebung von Privatisierungen öffentlicher Unternehmen, die allgemeine Verbesserung der katastrophalen sozialen Lage, aber auch der Rücktritt der Regierung des Teilstaats. Verlangt wird außerdem die Strafbefreiung von Protestteilnehmern, denen Anklagen wegen Terrorismus drohen. Während der Proteste im Februar waren das Präsidentschaftsgebäude sowie Regierungssitze mehrerer Kantone in Brand gesetzt worden. Mehrere Hundert Demonstranten und Polizisten wurden verletzt.

Bosnien und Herzegowina leidet unverändert an enormer Arbeitslosigkeit, offiziell liegt die Quote bei 45 Prozent, etwa die Hälfte der Bevölkerung lebt in der Nähe der Armutsgrenze. Das Durschnittsgehalt beträgt 422 Euro, etwa 18,5 Prozent der Bevölkerung müssen mit weniger als 120 Euro im Monat überleben.

Für Emin Eminagic von der Nichtsregierungsorganisation »Front Slobode« (Front der Freiheit) besteht der größte Erfolg der Proteste darin, dass die Leute sich von Angst und Gehorsam gegenüber den Autoritäten befreit haben.

»Die Forderungen sind zu 100 Prozent sozialer Art - wir wollen nur Löhne, mit denen wir überleben können. 22 Jahre lang haben die Menschen in Bosnien geschwiegen. Jetzt reden wir nicht von ethnischen Konflikten, erstmals seit dem Krieg können wir von Klassen sprechen. Ich glaube, dass die Solidarität nach Bosnien zurückkehrt«, betont der Aktivist aus Tuzla. Nicht zufällig begannen die Proteste in dieser früher hoch industrialisierten Stadt. Von der Industrie war nach der Privatisierung nicht viel übrig geblieben.

Eines der größten Probleme der ehemaligen jugoslawischen Republik ist die Existenz einer zahlenstarken politisch-bürokratischen Klasse, die Hass und Angst zwischen den Ethnien sät, um ihre Privilegien und Positionen zu bewahren. »Wir müssen das Modell der multikulturellen Apartheid ablegen«, fügte Eminagic hinzu, der am Dienstag an einer Diskussion der Heinrich-Böll-Stiftung in der Berliner Humboldt-Universität teilnahm.

Esad Bajtal, Philosoph und Soziologe aus Sarajevo, zeichnete die Konturen der gegenwärtigen Situation in Bosnien in einem Gespräch mit »nd« noch schärfer. »Die Politiker der verschiedenen Ethnien treffen bewusst keine Vereinbarungen, weil sie vom bestehenden Chaos profitieren. Es sind die Bürger, die den Preis dafür zahlen. Mit den Protesten begann der Aufstand der Bürger, und das ist der einzige Erfolg versprechende Weg im Kampf gegen die neo-faschistoiden Ethno-Oligarchien«, sagte Bajtal.

Viele bosnisch-serbische und bosnisch-kroatische Politiker haben die Proteste als rein »bosniakische« oder gar »anti-serbische« und »anti-kroatische« Erscheinungen darzustellen versucht. Betont wurde stets, dass es in mehrheitlich serbischen und kroatischen Gebieten keine oder zumindest viel schwächere Proteste gab. »Die kritische Frage ist: Ist dort alles in Ordnung oder können die Bürger dort aus Angst nicht auf die Straßen gehen und ihre Rechte fordern?«, fragt sich Bajtal. Die Politikwissenschaftlerin Zlatiborka Popov-Momcinovic aus Ost-Sarajevo sagte in der Diskussion, Milorad Dodik, der Präsident der mehrheitlich serbischen Entität, habe eine »verborgene Diktatur« eingeführt. Laut Umfragen unterstützten sogar 80 Prozent der Bürger der »Serbischen Republik« die Proteste in der Föderation, und auch in Banja Luka gab es Solidaritätskundgebungen. Ein Junge protestierte mit einem Transparent gegen die Jugendarbeitslosigkeit, was die Polizei als »beleidigend« wertete und dem Demonstranten eine Strafe von 220 Euro auferlegte, berichtete Eminagic.

Große Verantwortung für die bosnische Situation trägt die internationale Gemeinschaft, erklärte Bajtal. Das Dayton-Abkommen von 1995 habe zwar den Krieg beendet, doch der Staat sei unregierbar und bevorteile die Ethno-Oligarchien. Kroatien schlug unlängst vor, die EU solle dringend Verhandlungen über den Beitritt des Nachbarlandes beginnen. Die Sonderberichterstatterin des EU-Parlaments für Bosnien und Herzegowina, Doris Pack, lehnte das jedoch ab.

Im Oktober wird in Bosnien und Herzegowina gewählt. Zwar hat die politische Klasse als Folge der Proteste einige ihrer Privilegien eingebüßt, darunter die einjährige Gehaltsfortzahlung nach Verlust des öffentlichen Amtes. Aber es gibt wenig Hoffnung, dass sich dieselben Politiker, die das Land an den Rand der Katastrophe getrieben haben, reformieren können. Darin waren sich die Diskussionsteilnehmer einig.