nd-aktuell.de / 11.04.2014 / Kultur / Seite 15

Heimat. Jenseits dieser Welt

»März« von Heinar Kipphardt an den Münchner Kammerspielen

Hans-Dieter Schütt

Nur im Selbstgespräch ist der Mensch absolut ehrlich zu sich selbst. Im Selbstgespräch gelingt - letztlich - kein Betrug durch Beschwichtigung. Auch wenn du betreffs deiner Feigheiten, deiner Uncouragiertheiten, deiner Unterlassungen, deiner Verfehlungen noch und noch Beschönigung und Aufwertung versuchen magst - aus tiefstem Hintergrund grinst dich die Wahrheit an. Und du kennst sie. Sie lautet ganz einfach: Wir bauen zu sehr auf das, was uns abbaut; die Rationalität, die uns immer und überall abgefordert wird, ist als Grundregel ein Wahnsinn - der mehr und mehr Menschen zeugt, deren Grundfarbe aus ihren Augen leuchtet: das Weiß der Angst. Dies nennt man handelsüblich und landläufig: Normalität.

Ja, die viel beschworene Identität, mit der du durch den Alltag gehst, schlurfst, marschierst, tänzelst, schleichst und promenierst - sie lässt sich in den meisten Fällen nur zwanghaft zusammenhalten. Zwanghaft? Das klingt nicht gut, wo doch Selbstwertgefühl aufgerufen werden soll, nach draußen, in alle Umkreise - man geht frühmorgens schließlich als befohlen Glücklicher zur Arbeit. Das ist die Verabredung. Also bitte nicht: zwanghaft. Da muss eine andere Begriffsform her. So wie »unerschütterlicher Standpunkt« weit positiver klingt als »Stillstand«, so hört sich »gesunder Menschenverstand« weit besser an als besagter Verdacht auf Wahnsinn. Gesunder Menschenverstand, eine Abgrenzungsvokabel. Denn die Verrückten, die Wahnsinnigen, die Defekten, sie gibt es doch - ja, es sind immer die anderen. Für sie gibt es Anstalten, in denen sie verdämmern müssen, und Literatur, in der sie aufleuchten dürfen.

Im Roman »März« (1976) hat Heinar Kipphardt, in einer dokumentarisch angelegten Form der Montage, die soziale und klinische Karriere des schizophrenen Dichters Alexander März beschrieben. Es entstanden auch ein Theaterstück und ein Hörspiel. In Anlehnung an das Leben des schizophrenen Langzeitpatienten Ernst Hebeck, Autor betörend geheimnisvoller, strahlend hermetischer Gedichte, deren Schönheit des Abirrens doch eine erschütternd übertragbare Wahrhaftigkeit offenbarte. Johan Simons - scheidender Intendant der Münchner Kammerspiele, der in Kürze den Theaterpreis Berlin der Preußischen Seehandlung erhält - hat Kipphardts Werk inszeniert (just an den Münchner Kammerspielen war dieser 1971 entlassen worden, weil er als Dramaturg im Programmheft zu Wolf Biermanns »Dra-Dra-Dra« die Tradition von Diktatur und Machtmissbrauch in Verbindung gebracht hatte zu bundesdeutschen Politgrößen).

Simons inszeniert nicht die Anklage gegen den medizinkalten Dämpfungsapparat der Psychiatrien. Er erzählt, leise, verstörend zögerlich, alles ins Grau großer Undurchdringlichkeit tauchend, eine Liebesgeschichte, die lediglich einen Teil des Romans ausmacht. Alexander März und Hanna sind aus der Klinik geflohen. Ankunft in der Welt? Oder Fortsetzung des Ausgeschlossenseins? In der Mitte (Bühne: Bettina Pommer) steht ein Bassin. Schaumwasser. Thomas Schmauser als März steigt hinein. Er geht triefend, lauernd, angriffsbereit durchs Publikum, steigt die Stufen hinter dem Bassin hinauf. Stufen gleichsam kurz vor ihrer Verwandlung in eine Kletterwand. Schmauser: berückendes Beben, das dem Körper wohl vorschlägt, sich vom Boden zu lösen, dann aber, auf den Stufen, artistisch-behende Kraft. Kreatur. Die Hanna gibt Sandra Hüller als seelenumschleiertes Mädchen zwischen tiefer Versunkenheit und mutig ungelenken Öffnungsversuchen. Die Annäherungen beider sind atemberaubend zart, von Aggressionsschüben durchhämmert - aber nie ein Hauch übertriebener Fühligkeit oder ausgestellter klinischer Posen.

Ein Sprachschwingungszauber, dieser Abend. Und ein verblüffend wirksames dramaturgisches Technikum. Denn das Stück - es dauert etwa hundert Minuten - wird zweimal gespielt. Und just die Wiederholung des Gleichen schafft eine staunenswerte Aufmerksamkeit, die das Bekannte ins Fremde, das Erledigte ins Neue versetzt. Man steigt zweimal in den gleichen Textfluss und erlebt die Frische einer berührenden Anverwandlung. Aber auch den Frost einer Verhärtung. Wo nämlich die Liebe zwischen März und Hanna nun unaufhaltsam auch in die Bedrohung gleitet, das Mädchen angstvoll an Gitterstäben klebt, März ertrinkensnah untertaucht, da scheint ein unsichtbarer Nebel der Einschüchterung, der Angst, der gefährlichen Wildheit den gesamten Zuschauerraum zu erfassen. Als wolle Simons daran erinnern: Der Wahnsinn, das große allgewaltige Unverstandenbleiben - das sind mitnichten nur immer die anderen. März wird seinen Strickpullover über seinen und Hannas Kopf ziehen, sie schließt ihn in ihre Jacke ein wie in ein Gebet. Sie muss zurück in die Anstalt, er bringt sich um. Zwei als leiser Gegenton, dann das Scheitern, und alles klingt nach Schrei und Sterben. Ist Schrei und Sterben. Stille. Der letzte Tanz zu Björk-Musik.

Es ist, als hätten diese zwei Menschen gesprochen, geschwiegen, geküsst, geschlagen, um in sich selbst so etwas wie eine Gottesstelle zu finden. Halt im Haltlosen. Befreiungsenergie. Aber doch bleibende Isolation; sie stand oft ganz oben, er ganz unten; er stand ganz unten, sie ganz oben. Das Publikum rundum platziert. Sylvana Krappatsch las protokollarisch ungerührt und erfahrungsmüde aus Krankenakten. Die hohen Stufen. Das Wasser. Das Grau. »Unser Heim«, sagen beide. Und »gemütlich.« Heimat, das ist etwas weit jenseits vorherrschender Welt. Wie wenig doch nötig ist, um den Menschen als erbarmungswürdig zu erkennen. In diesem zusammengesetzten Wort der wichtigste Teil: »würdig«. So schwer zu leben, diese Würde. Dies ist der wahre Wahnsinn.

Nächste Vorstellungen: 11., 15., 17.4.