nd-aktuell.de / 12.04.2014 / Kultur / Seite 26

Was schützen eigentlich »Natur«-Schützer?

Geht es um alles, was kreucht und fleucht? Oder ist nur das Wilde, Unberührte schützenswert?

Walter Schmidt

Entlang des Westerwald-Steigs, eines streckenweise anspruchsvollen Fernwanderweges von 235 Kilometern Länge, können Wandersleute angeblich großenteils auf »naturbelassenen Pfaden« marschieren. Das klingt reizvoll, wirft aber die Frage auf, was ein naturbelassener Wanderweg sein könnte.

Gemeint sind wohl Pfade, die etliche Füße mit der Zeit in die gewachsene Erde getrampelt hatten oder irgendwann einmal provisorisch angelegt wurden. Die Natur selbst tritt jedenfalls keine Pfade und legt auch keine an. Es sei denn freilich, man zählt den Menschen zur Natur, womöglich mitsamt seinen Maschinen, sind die doch alle Erzeugnisse eines zweibeinigen Naturgeschöpfs. Dann aber wären selbst Pflasterwege natürliche Spuren, vergleichbar den Wildwechseln von Rot- und Rehwild, Wildschwein oder Fuchs. Man zögert ein wenig, dem zuzustimmen.

Die Sache wird noch heikler, wenn man sich Naturschutzgebiete (NSG), Naturparks oder Naturdenkmale ansieht. In den rund 8500 deutschen NSG (3,6 Prozent der Landesfläche) wird mangels Masse oft gerade nicht urwüchsige Natur (im Sinne unverfälschter Wildnis) geschützt. Bewahrt wird vielmehr fast immer ein Ausschnitt der Landschaft, der vom Menschen zwar mehr oder minder deutlich beeinflusst ist, aber aus Sicht des Biotop- und Artenschutzes als erhaltenswert gilt.

Die 104 deutschen Naturparks (27 Prozent der Landesfläche) wiederum finden sich zwar in reizvoller Kulturlandschaft und bergen in der Regel auch Naturschutzflächen, fördern aber vor allem Tourismus und Naherholung. Naturdenkmale schließlich können auch knorrige Eichen sein, die nicht wild aufgewachsen, sondern durch menschliches Wirken vor Hunderten von Jahren entstanden sind.

Was also ist Natur? »Darüber haben gelehrte Leute schon ganze Bücher geschrieben«, sagt Beate Jessel, Präsidentin des Bundesamtes für Naturschutz in Bonn. »Natur ist ein ganz schillernder Begriff, der sich nicht objektiv fassen lässt.« Jedenfalls sei sie »eine Projektionsfläche für menschliche Bedürfnisse und Gefühle«, etwa für die Sehnsucht nach unberührter Wildnis oder nach vertrauten, als heimelig empfundenen Landschaften, die gerade keine urwüchsige Natur mehr sind.

Jeder Mensch hat da so seine Vorlieben und Kopfkino-Bilder. »Natur sind für mich Pflanzen und Tiere in Kultur- und Naturlandschaften, wobei auch die Landschaften selbst zu einem Natureindruck beitragen«, sagt Jörg Liesen. Für den stellvertretenden Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Naturparke (VDN) gehört zur Natur »die singende Feldlerche auf beweideten Salzwiesen an der Nordseeküste genauso wie das brütende Storchenpaar auf einem Kirchdach oder die blühende Bergwiese in den Hochlagen des Schwarzwaldes«.

Auf Vielfalt laufen die Vorstellungen etlicher Naturschützer hinaus. »Wenn ich an Natur denke, sehe ich rauschende Wasserfälle in Norwegens Taiga. Oder die Vielzahl bunter Schmetterlinge in einem blühenden Bauerngarten auf Bornholm. Oder die Schwärme hungriger Kraniche in der Helme-Niederung in Thüringen«, sagt Eckart Kuhlwein, der als Vorstandsmitglied der Naturfreunde Deutschland auch für Naturschutzbelange zuständig ist. »Alles in der Natur hängt mit allem zusammen; jede Art hat ihre Bedeutung und muss geschützt werden«. Das sei auch im Interesse des Menschen, der die Natur »nicht weiter zerstören« dürfe, wenn er seine Lebensgrundlagen nicht vernichten wolle.

Auch für Till Hopf, den Naturschutz-Referenten beim Naturschutzbund NABU, »ist Vielfalt das Stichwort«. Zumindest in Landschaften, die stark vom Menschen überprägt worden sind, schützen Naturschützer deshalb nicht nur Natürliches, schon weil sie sonst wenig zu tun hätten. Die angestrebte Mannigfaltigkeit schließe unbewirtschaftete Wälder, Flussauen oder Küstenabschnitte ebenso ein wie Bereiche der Kulturlandschaft, »die erst durch jahrhundertelange menschliche Nutzung entstanden sind und heute vielen Arten eine Heimat bieten«.

Hopf denkt dabei beispielsweise an traditionelle Wallhecken (»Knicks«) in der Agrarlandschaft Norddeutschlands, aber auch an »Acker- und Feldraine mit hohem Wildkräutervorkommen oder extensiv bewirtschaftete Mähwiesen als Lebensraum vieler bodenbrütender Vögel«. Zur biologischen Vielfalt trügen selbst Flecken im Siedlungsbereich bei, »die eine hohe Lebensraumqualität aufweisen, beispielsweise alte Parks und Friedhöfe, auf denen wieder eine natürliche Entwicklung möglich ist, wie zum Beispiel auf alten Bahn- oder Industriegeländen«. Solche Lebensräume seien Refugien aus zweiter Hand für seltene Insekten, Reptilien und Pflanzen und deshalb »besonders und schützenswert«.

Vergleichsweise nüchtern klingt die Natur-Definition Hansjörg Küsters. »Für mich als Naturwissenschaftler ist Natur ein Prozess, vor allem also das, was sich in unserer Umwelt unaufhörlich verändert«, sagt der Pflanzenökologe von der Universität Hannover. »Dabei spielen Naturgesetze eine Rolle, aber gerade bei Tieren und Pflanzen führen sie immer wieder zu Resultaten, die wir Menschen nicht voraussehen können.«

Die meisten Menschen verstünden aber etwas anderes unter Natur, sagt Küster: »viel Grün, eine Vielfalt an Tieren und Pflanzen, Schönheit und die Ordnung eines natürlichen Gleichgewichts«. Eine solche Balance gebe es in der Natur allerdings nicht, denn alles in ihr verändere sich fortlaufend. Für Laien und Fachleute sei es deshalb »sehr schwer, sich über Natur zu verständigen«, wenn die einen sich eher Stabilität für die sogenannte Natur erhoffen und die anderen die natürliche Dynamik vor Augen hätten.

Was man gemeinhin Natur nenne, sei jedenfalls »keine Natur, sondern eine Landschaft«, urteilt Küster. Landschaften seien ein Gemeinschaftswerk natürlicher Vorgänge und menschlicher Taten, wobei mal das eine, mal das andere überwiegt - hierzulande meist das Menschenwerk. Man könne solche Landschaften durchaus schön finden, doch natürlich seien sie halt nicht, auch wenn sie auf viele Menschen so wirkten.

Beate Jessel, die schon erwähnte Präsidentin des BfN, spielt noch auf etwas ganz anderes an: die ihr sehr wichtige Wechselwirkung zwischen Natur und menschlichem Empfinden. »Wir müssen uns darüber klar sein, dass es nicht nur die Natur um uns herum gibt, sondern auch die Natur in uns.«

Sie meint damit so etwas wie die Menschnatur, unsere Gefühlswelt. Denn wie wir die Natur um uns her wahrnähmen, hänge stark von unseren jeweiligen Gefühlen und Befindlichkeiten ab. »Man denke an einen schönen, kitschigen Sonnenuntergang, den man unterschiedlich wahrnimmt und interpretiert, je nachdem, ob man fröhlich oder traurig ist.« Doch das gelte eben auch umgekehrt: »Auch die Natur um uns beeinflusst sehr stark die Natur in uns.« Unsere Gefühle schwingen mit, während wir eine Landschaft oder Tiere betrachten.

Hier liegt für die ehemalige Professorin für Landschaftsplanung in Potsdam ein wichtiges Argument für den Schutz der Natur und gerade auch der Wildnis, auch wenn es diese bei äußerst strenger Definition nirgendwo auf der Welt mehr gebe. »Wenn uns die letzten Wildnis-Gebiete verloren gehen, dann büßen wir auch die daran geknüpften Gefühle und Wahrnehmungen ein«, warnt Jessel. »Dann wirkt sich das eben auch auf die Natur in uns aus - auch dort stirbt dann einiges.« Es wäre ein Verlust, den kein Mensch wollen kann.