nd-aktuell.de / 19.04.2014 / Kultur / Seite 24

Göttliches Wutmonopol

Das Zornverbot war immer ein Kritikverbot

Velten Schäfer

Wenig Regungen haben einen so schlechten Ruf wie die Wut. Schon Seneca schrieb, sie verkehre »alles, was vorher das Beste und Gerechteste war«, ins Gegenteil: »Wen immer sie im Griff hat, den lässt sie an keine (...) Verpflichtung mehr denken. Gib sie einem Vater, und du hast einen Feind, gib sie einem Sohn, und du hast einen Vatermörder, (...) gib sie einem Mitbürger und du hast einen Besatzer, gib sie einem guten König und du hast einen Tyrannen.«

Als Anhänger der stoischen Philosophie empfahl der Gelehrte Ratio statt Ira - in ihrer behäbigen Friedlichkeit zwar eine sympathische, aber auch grundkonservative Agenda. Tugend besteht dann nämlich darin, sich einen Platz im Bestehenden zu suchen. Vielleicht hat Seneca, um das Jahr Null geboren, dabei an die Volkstribune Tiberius und Gaius Gracchus gedacht, die ein Jahrhundert vor ihm »populare« Reformen gefordert hatten - was sie das Leben kostete. Von ihnen ist nämlich überliefert, sie hätten oft »ira motus« gehandelt, also vom Zorn bewegt.

In der stoischen Lesart ist Wut also unschön und gefährlich - dass sie aber böse sein soll, ist eine Erfindung des Christentums. Im Gefolge des Kirchenvaters Laktanz (240-320) verurteilte dieses die Wut nicht mehr allgemein, sondern rief ein göttliches Wutmonopol aus, in dem man durchaus einen Vorläufer von Gottesgnadentum und Gewaltmonopol sehen kann: Was dem Menschen Todsünde ist, gehört zu Gottes Wesen. Der Herr ist nicht zu akzeptieren, sondern zu fürchten. Denn er ist zornig!

Aus Senecas sozialer Einordnung aus Gründen der Vernunft wird in politischer Hinsicht nun die schiere Unterwerfung. Es ist auch diesem Gedanken geschuldet, dass die Menschen das Jahrhunderte währende Wüten der Kirche und anderer Obrigkeiten so widerstandslos ertrugen. Das Wutverbot ist in der christlichen Tradition nicht nur Voraussetzung für Nächstenliebe, sondern auch ein Verdikt gegen Kritik. »Ich mein, dass kein Teufel mehr in der Helle sei, sondern allzumal in die Bauern sind gefahren«, schrieb Martin Luther in jenem hässlichen Text von 1525, in dem er die aufständischen Bauern verriet. In ihrem Handeln wollte er nichts mehr erkennen als »überaus und über alle Maßen das Wüten«.

Man kann dieses Wutverbot auch in der säkularisierten Welt weiterverfolgen - etwa in der kommunistischen Debatte um die »Spontaneität der Massen« oder in der bürgerlichen Gegenüberstellung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik bei Max Weber. Und es ist ja auch viel Wahres daran, dass »blinde Wut nur selten gut« tut, gerade in politischen Ausnahmesituationen.

Ganz ohne Zorn indes kann sich nichts ändern. Wer es klassisch mag, kann daher Aristoteles aufschlagen. Lange vor Seneca war dieser der Ansicht, dass der Zorn eine Tugend sei und nicht nur im Zuviel ein Problem, sondern auch im Zuwenig. Verfehlt war für ihn sowohl die »Cholä«, also das Gallige, der Jähzorn - aber eben auch ihr Gegenteil: das Phlegma.