»er braucht keine hand gottes«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Albert Ostermaier ist ein Sänger der Besessenen. Ist ein Sänger der Aufsteiger - im bergkletternden Sinne. Wer die Wände hochgeht, der gesteht beseelt seine Ohnmacht gegenüber jenen Anfechtungen der bürgerlichen Aufweichung, die da lauten: Sei sanft, sei und bleibe geordnet, sei gewohnheitstreu, pflege deine Sekundärtalente aus Disziplin, mäßigem Geist und kalkulierbarem Eigensinn. Nein, das ist kein Leben, »und du fragst mich was/ heimat ist das jod auf den/ blutenden knien die hand/ in den brennesseln«. Ostermaiers Lyrik singt das Lied der Romantik just dort, wo die bittersten Nachtfröste Lust haben, eine Frau zu entkleiden. Er liebt in höllischer Wüstenhitze das Schattenreich: Es ging in Gluten unter. Sein Werk säuft gleichsam Benzin, um sich vor der faden Anmaßung des gewöhnlichen Alkohols zu schützen.

Man kennt die intimen Bande, welche die Kunst mit der Hingabe an die Leistung und mit der Melancholie des Scheiterns verknüpfen - o nicht nachlassender Sog des Sports. Martin Walser porträtierte Boris Becker, Wolf Wondratschek erzählte vom Boxen, Günter Herburger ist zum Erzähler des Marathonlaufes geworden, Thomas Brussig schrieb über einen Trainer und einen Schiedsrichter. Albert Ostermaier nun ist der faszinierendste Fußballdichter. Er ist Torhüter der Autorennationalmannschaft, wurde Fußballer, um der Biederkeit des handwarmen Daseins mit Stollenkraft auf die Pfoten zu treten. Er ist gleichsam der Dichter des FC Bayern München, schrieb grandiose Oden auf die roten Teufel von der Säbener Straße - die schönsten davon (über Schweinsteiger, Neuer, Scholl, Ribéry) gehören zur Gedichtsammlung »Flügelwechsel«, herausgegeben im Vorfeld der Fußball-WM in Brasilien. Lahm: »der ball ist wie/ ein arm den er um seine/ freunde legt«. Müller: »er braucht/ keine hand gottes um/ nach den sternen zu/ greifen«.

Oden gegen die Katechisten der Rationalität - die Dortmund womöglich nur lieben, weil sie Bayern München hassen; sie können bei Sport nicht an Mystik denken, weil sie kunstlos fühlen und darauf noch stolz sind (es gibt eine Regel: je politischer, desto poesiefeindlicher!). Tag ist, worin man sich unabsichtlich findet, Fußball ist, was man bewusst daraus macht. So geht dieser Dichter in seinen Stoff, wie der Spieler, der dorthin geht, wo es weh tut. Besungen in diesen Oden werden Sokrates und Jorge Valdano, Hans Meyer und Jimmy Hartwig, die Abseitsfalle und die Nachspielzeit. Verse über Julius Hirsch, den jüdischen Nationalspieler, den die Nazis ins KZ schleppten. Über Burak Karan, den hochtalentierten Wuppertaler, der in den Nahen Osten ging - in den Dshihad? Ach, »wäre alles/ anders gekommen wären wir/ spielend menschen und kein/ tödlicher pass fände sein ziel«.

Und bedichtet wird auch Ronaldo. »zieht/ einsam ab unhaltbar für eine/ handvoll gel im haar tötet er/ breitbeinig jede illusion«. Sieg, das ist die Blume (ein Kurzblüher) hinterm Schmerzensberg; immer sucht Ostermaier den existenziellen Grund aller Süchte nach Erfolg, »der ball kommt nie aus der/ richtung aus der man ihn erwartet«. Wir sind nicht das, was wir morgen wollen, wir sind, was wir heute können. Und wir können nur, was die Wirklichkeit uns an Freiheit zumisst. Fatalismus? Nein. Ermutigung, sich im Gegebenen Räume zu erobern - in denen wir dann frech und frei durch Reih und Glied dribbeln.

Sechs Oden hat Ostermaier dem Welt-Torwart Oliver Kahn gewidmet. Verse auf eine Zentralgestalt. Auf dem Rücken die Nummer Eins: Der Erste beim Kassieren, der Erste beim Bezahlen - keiner ist so einsam, keiner saugt so sehr die Blicke an wie der Mann im Kasten. Er lebt im steten Verdacht des Versagens. Der Gedanke an Torwart-Mythen wird wach. Moskaus Jaschin konnte sich auseinanderziehen wie Gummi; Zwickaus Croy war der kluge Sensible, Münchens Maier eine schnarrende Spiralfeder; Kolumbiens Clown Higuita tanzte aufreizend weit vorm Tor; Italiens Buffon: geschmeidig tiefernst, fast indianisch im Mühen um Mystik; Kölns Schumacher: vielleicht der härteste Keeper der Welt, wundenübersät, wundenschlagend. Und des Franzosen Barthez' Glatze gleißte allen Heranstürmenden entgegen, als wolle er einschüchternd sagen: Hier, seht, ich hab den Ball schon.

Aber kehren wir zu Kahn zurück: für Ostermaier »die blonde Katze«, wutentschlossen, als »wollte er die sonne aus ihrer/ laufbahn fausten«, wenn sie überm Stadion auftauchte. Wer sich ins Tor stellt, schließt sich weg, setzt sich aus, holt sich im Kasten alle Enge der Welt auf den Pelz, um sie hechtend zu sprengen. Auf dass sich Angriffsketten in Einzelteile auflösen. Titan Kahn befreite sich weltberühmt in - Umzingelung. Dies ist ein Widerspruch, ist Masochismus, und die Schwerkraft blieb nur ein Gerücht - von oben schauten die Engel aller Himmel dem Münchner zu: für jeweils neunzig Spielminuten Lehrlinge in der Kunst, wie man wirklich fliegt.

Wer lebt schon freiwillig in einem Strafraum und wirft sich weg - nach allen Seiten. Sprunggelenke wie Handgranaten und »schenkel wie klappmesser«. Oh, jetzt sieht die politische Korrektheit ihre Schussposition - weil bei Torwartsituationen der Wortschatz sofort eiserne Metaphorik wird. Sei's drum. Der Torhüter, wenn er einem Spieler entgegenstürzt, strahlt nie ein leichtes, fließendes, elegantes Spiel aus - kein anderes Geschehen als jenes vorm Tor assoziiert Kampf, Gefahr, Verletzung. Ostermaiers Kahn-Oden sind auch ein Nachdenken über den »Flügelwechsel vom Profi zum ehemaligen Profi«, wie Kahn im Vorwort schreibt: Wie geschieht das Loslassen, dieser letztmögliche große Sieg? Entbehrlichkeitsgefühle als Lustgewinn. Auch eine Arbeit, die zu leisten ist und über tägliches Training führt.

Fußballgedichte, dazu Bilder von Florian Süssmayr - Gemälde von leeren Fußballfeldern, Farbspiele aus Weiß und Grün und Schwarz: Weltentstehung unter grauen, weißen Himmeln. Just der Sport als Raum der Selbstbehauptung, in dem geschieht, was immer geschieht: Der Ball gehört nicht uns allein. Das erhebt jedes neue Fußballspiel zur Ungewissheit, und hier liegt die Quelle, warum der Sport immer wieder auch Schriftsteller zur Äußerung reizt. Es ist die Abkehr davon, Dinge einzig mit Vernunft zu ergründen und auszumessen, sie dann zu verziffern und auf Begriffe zu bringen. Schon ein zufällig sich in den Lauf reckendes Bein kann dem Geschehen eine Wendung geben, die alle Pläne, taktische Vorgaben und technische Berechnungen zunichte macht. Etwas, das im Spiel fortwährend passiert. Demnach ist Fußball wie die Welt: eine Beschwörung von Freiheit (der Spieler, der losstürmt) und zugleich eine unaufhörliche Blamage des Freiheitsbewusstseins (durch den gegnerischen Spieler, der blöderweise im Weg steht). Wer handelt, verstrickt sich in des Lebens Fremde - die man daran erkennt, dass sie andersfarbige Trikots trägt.

Albert Ostermaier: Flügelwechsel. Fußball-Oden. Mit Bildern von Florian Süssmayr und einem Vorwort von Oliver Kahn. Insel-Bücherei Nr. 1395. Insel-Verlag. 112 S., geb., 13,95 €.

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