Erstsemester in der Heimat des Konfuzius

Das Studium ist in China zwar stark reglementiert, doch viele Studierende fühlen sich erstmals ein bisschen frei

  • Julian Marioulas, Qingdao
  • Lesedauer: 7 Min.
Jährlich nehmen derzeit neun Millionen junge Chinesen an der Gaokao, der Zugangsprüfung zu den Universitäten teil. Für drei Millionen öffnen sich danach die Tore zum Studium - wie für Ai Xin.

Für Ai Xin war eine Welt zusammengebrochen, als sie an einem heißen Montagmorgen vor einem knappen Jahr die Ergebnisse ihrer Gaokao, der chinesischen Hochschulzugangsprüfung, erfahren hatte. Drei Jahre lang hatte sie zuvor die Oberstufe der besten Schule in Qufu besucht. Qufu, Geburts- und Sterbeort von Konfuzius, ist eine Stadt im Zentrum der ostchinesischen Provinz Shandong. Ai Xin hatte sich durch ihre Englischkenntnisse hervorgetan. Mit einiger Zuversicht entschied sie sich daher am Vorabend der Prüfung, ein Studium an der Chinesischen Ozean-Universität anzustreben. Die Universität in der Hafenstadt Qingdao gilt - nach der Shandong-Universität in der Provinzhauptstadt Jinan - als die beste der Provinz und gehört zum sogenannten 985-Projekt, das 39 der besten Hochschulen Chinas umfasst. Ai Xins Mutter, die in Qufu ein Reisebüro leitet, versprach ihr einen Urlaub in Europa, sollte sie die Zulassung erhalten.

Ein einziger Punkt fehlte zur Erfüllung des Traums

Doch an diesem Tag war ihr sofort klar, dass sie diesen Traum würde begraben müssen. Denn gleichzeitig mit dem Ergebnis ihrer Prüfung - sie hatte 569 von 750 möglichen Punkten erreicht - veröffentlichte das Bildungsministerium die Mindestanforderung für die Zulassung zum Studium an einer nationalen Universität: 570 Punkte. Ein Punkt nur fehlte Ai Xin. Der Weg an die Ozean-Universität sollte ihr damit versperrt bleiben. Einen Monat lang vergrub sie sich in tiefem Kummer. Was die Reise nach Europa anging, zeigte sich ihre Mutter unnachgiebig, und so blieb Ai Xin nichts anderes übrig, als über andere Universitäten nachzudenken.

In kaum einer chinesischen Region sind die Hürden zum Hochschulzugang so hoch wie in der Provinz Shandong. Über 95 Millionen Einwohner zählt sie, aber nur 21 Universitäten und weitere 30 Hochschulen mit Bachelorkursen stehen zur Verfügung. Zum Vergleich: Allein im Haidian-Distrikt von Peking reihen sich zwei Dutzend Universitäten nebeneinander, darunter die beiden prestigeträchtigsten Hochschulen des Landes, die Peking- und die Tsinghua-Universität. Zwar nehmen auch sie Studenten aus anderen Provinzen auf, die meisten Studienplätze aber sind Pekinger Schülern vorbehalten. Solche Ungleichgewichte sind durchaus die Regel, denn auch fast alle anderen geschichtsträchtigen Bildungsstätten, an denen Forschung, Geld und Prestige geballt sind, haben ihre Sitze in Peking oder Shanghai. Nur für postgraduale Studien gelten gleiche Zulassungsbedingungen, unabhängig von der Heimat der Bewerber.

Lebte Ai Xin in Peking, hätte ihr sogar eine geringere Punktzahl zum Studium an einer Spitzenuniversität verholfen. In Shandong aber blieb ihr, obwohl sie mit ihrem Ergebnis zum obersten Zehntel der Studienbewerber zählte, keine andere Wahl, als in der zweiten Zulassungsrunde nach einem anderen Studienplatz Ausschau zu halten.

In China ist der Name der Universität, die man absolviert hat, bei der Suche nach einem Arbeitsplatz häufig hilfreicher als das Fach, das man studiert hat. Manches Mal sogar wichtiger als die Studienleistungen. Doch zumindest für die Studierenden selbst gewinnt die Wahl der Studienrichtung - bisweilen auch gegen den Willen der Eltern - an Bedeutung. Da Ai Xin mit ihrer Punktzahl unter den besten Studenten der zweiten Zulassungsrunde rangierte, hatte sie unter den provinzgeleiteten Universitäten und den dort angebotenen Studiengängen weitestgehend freie Wahl.

Sie entschied sich schließlich für die Universität für Wissenschaft und Technik Qingdao, abgekürzt QUST. Die ist zwar in Shandong vor allem dank ihrer technischen Studiengänge bekannt, aber auch in den Gesellschafts- und Geisteswissenschaften genießt sie einen guten Ruf, vor allem wegen der vergleichsweise geringen Klassengrößen. Das Germanistik-Institut beispielsweise nimmt jährlich nur 20 Studenten auf.

Eine Stimmung wie in Deutschland vor der Einschulung

Ai Xin wollte eine zweite europäische Fremdsprache erlernen, was nur an wenigen Universitäten Shandongs möglich ist. Verbreitet sind dagegen Koreanisch und Japanisch. Nicht zuletzt hatte sich Ai Xin schon vor der Gaokao für ein Studium in Qingdao entschieden. Die Stadt an der Ostküste, in Deutschland früher Tsingtao genannt, ist landesweit für ihre Lebensqualität bekannt. Jinan dagegen - die Provinzhauptstadt - genießt sowohl in Bezug auf ihren Entwicklungsstand als auch auf die Luftreinheit einen zweifelhaften Ruf.

Nachdem sie ihre Zulassung für Qingdao erhalten hatte, vertiefte sich Ai Xin schon mal ins Selbststudium der deutschen Sprache, bevor sie sich auf den Weg ins bergige Laoshan im Osten Qingdaos machte. Die Ozean-Universität, ursprünglich ihr Ziel, liegt im gleichen Stadtteil.

Am Wochenende vor Semesterbeginn herrschte auf dem Campus eine Stimmung wie in Deutschland zur Zeit der Einschulung. Viele Studienanfänger werden von ihren Eltern begleitet, die bei dieser Gelegenheit einige Stunden auf dem Universitätsgelände verbringen - vor allem, wenn es sich um eine bekannte Hochschule handelt. Der enorme Druck, unter den sie ihre Kinder in den Jahren zuvor gesetzt hatten, hat sich in diesem Fall ausgezahlt.

Vor jeder Fakultät der QUST war ein provisorisches Empfangsbüro aufgebaut worden, in dem die älteren Jahrgänge den Erstsemestern mehr oder weniger hilfreich zur Seite standen. Da fast alle Studenten in universitätseigenen Wohnheimen auf dem Campus wohnen, denn kaum jemand verfügt über ein Elternhaus in der näheren Umgebung, ist der Einzug in die Sechsbettzimmer die erste aufregende Unternehmung für die Neulinge. Ebenso gilt es, die künftigen Kommilitoninnen und Kommilitonen kennenzulernen.

Zum ersten Mal elterlicher Aufsicht entronnen

Obwohl der Studienablauf in China in hohem Maße vorgegeben ist, bietet sich den Studierenden doch zum ersten Mal im Leben ein gewisses Maß an Freiheit, denn sobald das Semester beginnt, ist die Zeit elterlicher Aufsicht und des jahrelangen Auswendiglernens vorbei. Allerdings beginnt das Studium mit einer Unterrichtseinheit besonderer Art: Das gemeinsame Training durch die Armee, die sogenannte Junxun, ist an allen Hochschulen Pflicht. Doch ist das inzwischen nicht mehr ein Monat harten Drills, sondern eine durch viele Leibesübungen begleitete Einweisung ins Universitätsleben. Die Instruktoren werden zwar von der Volksbefreiungsarmee gestellt, doch handelt es sich nicht mehr um Offiziere, sondern meist um Kadetten, die ihrer Aufgabe mit wenig Elan nachgehen. Ein bis zwei Wochen lang exerzieren die Studenten ordentlich in Reih und Glied auf dem Sportplatz und den Straßen des Universitätsgeländes, hocken in der Sonne und wiederholen patriotische Losungen. Auf die Frage, was sie von der Junxun halten, äußern Studentinnen immer nur die eine Befürchtung: dass ihre in den Sommermonaten sorgsam vor der Sonne geschützte Haut die in Europa geschätzte Bräune abbekommt.

Anders als in Deutschland, aber vielen anderen Universitätssystemen der Welt durchaus ähnlich, teilen die Studierenden in China für vier Jahre sowohl die Unterkunft als auch den größten Teil ihres Stundenplans. Jeder Jahrgang hat einen Klassensprecher und Studenten, die für die Finanzen, für die Sauberkeit der Wohnheimräume oder andere kleine Aufgaben zuständig sind. Im ersten Semester stehen noch keine Wahlfächer auf dem Programm, wohl aber wöchentlicher Frühsport noch vor Sonnenaufgang. Der ist verpflichtend und führt dazu, dass mancher den Unterricht am Vormittag schlafend verbringt, was ihm gegen Jahresende, wenn es kälter und dunkler wird, nicht mal verübelt werden kann.

Einige Studierende verfallen gleich zu Beginn in einen gewissen Trott und füllen ihre Zeit entweder mit Computerspielen oder Versuchen, eine Freundin oder einen Freund zu finden. Die Mehrheit freilich müht sich gerade an den besseren Universitäten, sich im Studium hervorzutun. So auch Ai Xin, die weit mehr als die geforderten Hausaufgaben einreichte und erfolgreich am Englischwettbewerb der Erstsemester teilnahm. Darüber hinaus betätigte sie sich gleich zu Beginn beim Campusradio, wo sie allmorgendlich auf Englisch ansagt.

Die an jeder Universität tätige Studentenvereinigung spielt bei der Verwaltung der Hochschulen keine Rolle, sie ist vorwiegend für kulturelle Veranstaltungen und Wettbewerbe zuständig. Für die neuen Germanistik-Studenten beispielsweise war der Auftritt auf der Begrüßungsfeier der Fremdsprachenfakultät, bei der sie gemeinsam mit Mädchen und Jungen einer nahen Grundschule ein Programm in Zeichensprache aufführten, ein Semesterhöhepunkt.

Das Semester endete mit den ersten Prüfungen nach der Gaokao. Ai Xin erreichte mit Abstand das beste Ergebnis unter den Deutschstudenten, sowohl in ihren schriftlichen als auch in den mündlichen Prüfungen.

Ai Xin hat ihr langfristiges Ziel schon jetzt formuliert: Nach vier Jahren an der QUST möchte sie nach Deutschland und dort etwas im Bereich von Politik und Gesellschaftswissenschaften studieren. Ein Masterstudium in China wäre nur die zweite Wahl. Doch der Weg wird kein einfacher sein, denn ihre Universität in Qingdao hat keine deutsche Partneruniversität in diesen Bereichen. Daher wird Ai Xin überragende Studienleistungen vorweisen müssen. Das Potenzial dafür hat sie in diesem ersten Semester gezeigt; ob sie auch beharrlich genug ist, wird sich im nächsten Semester erweisen.

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