Der forensische Blick auf die Welt

Das Haus der Kulturen der Welt erforscht in einer Ausstellung die »Architektur der öffentlichen Wahrheit«

  • Felix Koltermann
  • Lesedauer: 4 Min.

Satellitenbilder, animierte Karten, Grafiken und Schaubilder: Dies sind die zentralen Elemente der Ausstellung »Forensis - The Architecture of Public Truth«, die zurzeit im Haus der Kulturen der Welt (HKW) zu sehen ist. Kuratiert von Anselm Franke vom HKW und dem israelischen Architekten Eyal Weizman, versammelt sie die Ergebnisse eines am Londoner Goldsmiths College angesiedelten mehrjährigen Forschungsprojektes. Mit dem Begriff »Forensis« führen Weizman und Franke die gerichtliche Forensik an ihre Wurzeln zurück. Im Lateinischen bedeutet »Forensis«: dem Forum zugehörend. Das römische Forum war ein mehrdimensionaler Raum, der sowohl der Verhandlung als auch der Wahrheitsfindung diente. Daran knüpft die Ausstellung an.

Was sich dem Besucher auf den ersten Blick offenbart, ist eine kaum zu überblickende Menge an Material, an Texten, Fotos, Videos und Karten. Diese ist erst einmal nur mit radikaler Selektivität zu bewältigen. Der Ausstellungsraum ist in gedämpftes Licht getaucht, die verdunkelten Fenster lassen kein Tageslicht herein, etwas Erhabenes haftet ihm an. Neben schwarzen Raumteilern sind große Leuchtkästen die zentralen Ausstellungselemente. Über 25 verschiedene Themen sind zu finden, unterteilt nach Fallstudien (»Cases«) und Fällen (»Files«) sowie geordnet nach übergreifenden Themenkomplexen wie »Osteobiographies« oder »Forensic Architecture«.

Schnell wird klar, dass der Text eines der wichtigsten Medien der Ausstellung ist. Er ist omnipräsent. Ohne Text keine Kontextualisierung und kein Zugang zu den Arbeiten. Wer sich darauf einlässt, der wird hineingezogen in aufregende Mikrokosmen, die normalerweise nur Experten zugänglich sind.

So zeichnet die Ausstellung anhand vieler konkreter Beispiele nach, wie Menschenrechtsverbrechen, Umweltverschmutzung und die Folgen verdeckter Kriege mit zeitgenössischen, vor allem bildgestützten Verfahren sichtbar gemacht werden können. Dabei werden viele der Konflikt-Hotspots der vergangen Jahrzehnte gestreift. Der Putsch in Chile ist ebenso vertreten wie der Genozid in Guatemala, der Bürgerkrieg in Bosnien, der israelisch-palästinensische Konflikt und der US-amerikanische Drohnenkrieg in Jemen und Pakistan. Aber auch andere aktuelle Themen wie der Raubbau an der Natur im Amazonas, die Folgen des Tagebaus in der chilenischen Atacamawüste oder die Flüchtlingsströme über das Mittelmeer werden aufgearbeitet.

Denk- und durchführbar sind die in der Ausstellung präsentierten Recherchen nur durch die Kombination einer Vielzahl verschiedener Recherchemethoden. Die Basis stellen dabei in der Regel Bilder dar, seien es Fotografien, Satellitenaufnahmen oder Videomaterial. Diese werden in unterschiedlichen Formen weiterverwendet, sei es zur Erstellung von Kartenmaterial oder zur Entwicklung von 3 D-Modellen. Oft wird die Recherche ergänzt durch Materialien aus Archiven sowie Interviews und Gespräche mit Zeitzeugen und Wissenschaftlern. Entsprechend vielfältig ist auch die Bildpräsentation in der Ausstellung. Sie greift alle hier genannten Medien auf.

»Forensis« ist dabei jedoch keine Kunstausstellung. Das Projekt ist an der Schnittstelle von wissenschaftlicher Recherche und visueller Dokumentation angesiedelt. Den Ausgangspunkt aller Arbeiten bilden wissenschaftliche Forschungsprojekte der unterschiedlichsten Disziplinen. Neu ist, dass dem Betrachter die Ergebnisse in Form einer Ausstellung präsentiert werden. Damit werden die Ergebnisse nicht minder wissenschaftlich, können jedoch nur Fenster zu den einzelnen Themen sein. Im umfangreichen Begleitkatalog, erschienen bei Sternberg Press, sind die dazugehörigen wissenschaftlichen Texte zu finden. Er bietet damit eine hervorragende Möglichkeit, tiefer in die Materie zu einzusteigen.

Trotz der vielen Worte bleibt die Zielrichtung der Ausstellung nach dem Lesen und Betrachten der einzelnen Arbeiten etwas vage. Dabei sind gute Anknüpfungspunkte vorhanden. So ist das Arbeiten mit Zeugen von Menschenrechtsverbrechen eine Form der Aufarbeitung der Vergangenheit. Und das systematische Aufarbeiten unterschiedlicher, zum Teil sehr kontrovers diskutierter politischer Themenfelder wie im Zusammenhang mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt trägt zur Versachlichung der Auseinandersetzung bei. Die Visualisierung der Ergebnisse über Karten und Modelle bietet eine neuartige Möglichkeit, dem breiten Publikum komplexe politische Themen zugänglich zu machen.

Bis 5. Mai, Mi-Mo 11-18 Uhr. Am 27. April gibt es einen Vortrag von Eyal Weizman zum Thema »Forensic Architecture«, am 4. Mai ein Gespräch zwischen dem argentinischen Forensiker Luis Fondebrider und dem Berliner Anwalt Wolfgang Kaleck. Der Katalog zur Ausstellung (744 S., 28 €) ist im Buchhandel und im HKW erhältlich.

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