Zeitreise in eine versunkene, verwunschene Welt

Julia Mensch reiste auf den Spuren ihres Großvaters durch ehemalige sozialistische Länder

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.

Technologie kreiert Geheimnisse, oft gerade dann, wenn sie nicht perfekt ist. Dies lässt sich anhand eines wunderbaren fotografischen Zeitenvergleichs der argentinischen Künstlerin Julia Mensch in der Galerie im Turm erfahren. Mensch grub die Dias aus, die ihr Großvater Rafael im Jahr 1973 bei einer Bildungsreise argentinischer Kommunisten durch die damaligen sozialistischen Länder gemacht hatte. Mensch senior hielt wie ein gewöhnlicher Tourist klassische Sehenswürdigkeiten wie das Brandenburger Tor in Berlin und den Moskauer Fernsehturm fest. Er als Argentinier hatte, anders als die meisten Kommunisten, die er besuchte, auch die Gelegenheit, Westberlin einen Besuch abzustatten. Das belegt ein Foto von der »Goldelse« im Tiergarten. Immer wieder suchte er aber auch die offiziellen Gedächtnisstätten wie das Treptower Ehrenmal und die Gedenkstätte der Sozialisten auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde in Berlin auf.

Seine fotografischen Dokumentationen dieser Besuche gewinnen neuen Charme, weil die Enkelin die alten Orte erneut aufsuchte, aus gleicher Perspektive fotografierte und - wenn der Opa auf der alten Aufnahme im Bild war - sich auch selbst an dessen Stelle ablichten ließ.

Die Differenz aus vier Jahrzehnten lässt im Bildvergleich so manchen Baum verschwinden, manche Baulücke gefüllt und die Autofabrikate ausgetauscht sein. Der größte Unterschied liegt aber darin, dass das alte ORWO-Material nicht nur den bekannten leichten Blaustich aufweist, sondern auch häufig mit pinken Flecken übersät ist. Sie verleihen den Aufnahmen eine seltsam pop-artige Anmutung und entrücken sie ihrer Zeit.

Diesen Aspekt verstärkt die Künstlerin noch, indem sie zahlreiche winterliche Aufnahmen vom Osteuropa-Trip ihres Großvaters zur romantisch wirkenden Videoarbeit »Republic of Orwochrom« zusammenfügt. Schneebedeckte Landschaften sind zu erkennen, in denen sich mal ein »Moskwitsch« durch die weiße Pracht kämpft, mal ein Denkmal für den Sieg des Proletariats auftaucht und ganz unvermittelt auch einmal eine alte Burganlage. Auf den ersten Blick zuzuordnen sind die Fotos nicht. Das verstärkt den Eindruck, einer verwunschenen Welt gegenüberzustehen.

Historische Reminiszenzen lösen einige der Notizen aus, die Rafael Mensch bei seiner Reise machte und die seine Enkelin in den Film integriert. »120 Mark Miete, 780 Mark Lohn«, heißt es da. Und »kostenlose Medikamente«. Und auch »mehr Arbeitsplätze als Absolventen«. Tja, eine ziemlich ferne Welt.

Rafael Mensch, 1924 in einem damals polnischen, heute ukrainischen Dorf geboren und im Alter von elf Jahren mit seiner jüdischen Familie nach Argentinien ausgewandert, ist nach Auskunft der Galeristin Naomi Hennig noch heute Kommunist. Die rote Fahne sah er zuerst in seiner alten Heimat Polen. In Argentinien konnte für ihn die kommunistische Idee »eine utopische Idee« bleiben, notiert seine Enkelin im Zusammenhang mit einem anderen Kunstprojekt, das sie in den Geburtsort ihres Vorfahren führte.

Wenn sie sich nun an dessen Stelle vor dem Gedenkstein in Friedrichsfelde mit der Aufschrift »Die Toten mahnen uns« fotografieren lässt, ergibt sich ein seltsames Echo über drei Epochen. Die gläubige Generation von Julia Menschs Großvater gedachte noch der heroischen Kämpfe von Liebknecht, Luxemburg und Genossen, in dessen Kern allenfalls für ganz skeptische Beobachter schon die extremen Formen des Stalinismus und wohl selbst für sie noch nicht das liederliche Mittelmaß des real existierenden Sozialismus auszumachen waren, während die Enkelgeneration mit scheuem Staunen die Relikte einer untergegangenen Alternative zur gegenwärtigen Gesellschaftsordnung betrachtet. Bilder aus der Inka-Hauptstadt Machu Picchu könnten kaum ferner wirken als diese gerade einmal vier Jahrzehnten alten Aufnahmen. Einziger Unterschied: Man kann gewissermaßen in sie hereintreten, wenn man die Galerie verlässt und sich unversehens in der Karl-Marx-Allee mit Blick auf den Fernsehturm befindet, den auch Rafael Mensch erblickt hatte. »1973« stellt eine Zeitreise in drei Dimensionen dar.

Julia Mensch - 1973. Galerie im Turm, Frankfurter Tor 1, bis 6. Juni, Di-So 12-19 Uhr

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