Wir sind die besten Helfer der Welt

Südkoreaner streichen ihren Urlaub, um den Angehörigen der Opfer des Schiffsunglücks zu helfen

  • Felix Lill, Seoul
  • Lesedauer: 5 Min.
Eine Nation entdeckt im Trauma neue Stärken. Während die Koreaner über die Fähigkeit ihrer Rettungsdienste schimpfen, entwickeln sie nach dem Schiffsunglück Stolz für ihre Hilfsbereitschaft.

Woo Gyung-tae winkt Autos durch die Trasse und zieht ein ernstes Gesicht. Neben ihm gehen zwei Polizistinnen hin und her, kontrollieren den Zugang zum Gedenkpark. Sie wollen eine Atmosphäre der Sicherheit erzeugen. Dem schlanken Mann mit Basecap gefällt das nicht. Eine Familienangehörige hat er verloren, vor gut drei Wochen auf der versunkenen Fähre Sewol. Wegen dieser Schülerin und wahrscheinlich weiteren rund 300 Todesopfern gibt es diese Trauerstätte erst. Sie liegt in Ansan, einem Vorort der Hauptstadt Seoul, wo die meisten Opfer zur Schule gingen. »Was sollen die Polizisten hier?«, flüstert Woo mit fragendem Blick. »Wir Freiwilligen können das alles auch allein. Sieht man doch«, sagt er.

Dann verrät er: »Wir Koreaner sind die schlechteste Nation der Welt, wenn es ums Retten und Schützen von Leben geht. Aber wir sind die weltweit besten Freiwilligenhelfer.« Woo Gyoung-tae bekommt kein Geld dafür, dass er schon kurz vor acht Uhr morgens an der Abfahrt einer Schnellstraße steht, um die Autos trauender Koreaner einzuweisen. »Ich will mich nützlich machen, in diesen Tagen der nationalen Trauer brauchen wir das.« Am 16. April ereilte Südkorea die womöglich größte Tragödie zu Friedenszeiten, als die Fähre Sewol mit 476 Passagieren nicht nur sank, sondern sich Crew und Rettungsdienste um Küstenwache und Feuerwehr als zu wenig hilfreich erwiesen, um die im Schiff Gefangenen zu retten.

Die Wut der Nation ist riesig. Medien berichten rund um die Uhr von traurigen und empörenden Neuigkeiten. Immer wieder kommen Nachlässigkeiten der öffentlichen Stellen ans Licht. So war es ein Schüler auf dem Schiff, der noch eher als die Crew die Schieflage bemerkte. Aber die Feuerwehr zögerte mit der Weitergabe der Information. Die Küstenwache fragte zunächst die Koordinaten des Schiffs ab, woraufhin der Anrufer nichts zu sagen wusste.

Das Ausmaß des Schadens ist dagegen fast sicher, Lebende gibt es im Schiff nicht mehr. Aber der Umgang damit ist zumindest von zivilgesellschaftlicher Seite bemerkenswert. In Jindo, dem größten Ort der gleichnamigen Insel im Süden des Landes, wo sich die Familien der Opfer eingerichtet haben, um wenigstens auf die Körper ihrer Nächsten zu warten, hat sich an den ersten Tagen eine Siedlung eingerichtet. In der Turnhalle schlafen Hunderte Angehörige, mit ihnen leben ungefähr so viele Freiwillige, die für die Leidenden Essen kochen, Blutdruck messen, eine Gebetsstätte abhalten, psychologische Unterstützung anbieten.

20 Kilometer von Jindo entfernt, an der Küste, zeigt sich ein ähnliches Bild. Täglich kommen Boote von der See an, wo die Sewol auf Grund ging. Nicht selten bringen sie geborgene Passagiere mit. Um die mentale Last für die Familien nicht noch schwerer werden zu lassen, stehen Getränke, Essen, Süßigkeiten bereit. Helfende Hände sind überall, Ärzte, Krankenschwestern, Studenten, Angestellte haben sich freigenommen, um beizustehen.

Wie in Ansan, wo im Zehnminutentakt ein Shuttleservice zu den Trauerstätten fährt, kann man auch im Süden gratis zwischen Jindo und der Küste pendeln. Taxifahrer haben Menschen sogar von Seoul bis in den Süden gebracht, gratis, auf einer Strecke von rund 350 Kilometern. Die Trauerstätten in Seoul, Ansan und Jindo sind stark besucht. Allein in Seoul kommen 12 000 Menschen pro Tag, um Blumen niederzulegen.

»Das einzige Schöne hier ist die Hilfe der Leute«, sagt Feuerwehrmann Lee Tong-hyun an der Küste im Süden. Seine Aufgabe ist es, verweste Körper in die Heimat zu transportieren. Vor zwanzig Jahren habe er schon einmal einen Schiffsuntergang begleitet, damals starben 292 Menschen. »Damals haben die Menschen auch auf beeindruckende Weise geholfen. Aber diesmal sind es noch viel mehr Leute. Das rührt mich.«

»Wer wäre sonst hier, wenn nicht wir einfachen Leute?«, fragt Hwang Seonhee, eine Sozialarbeiterin, die an der Küste Essen ausgibt und für ihren Einsatz ihren Urlaub gestrichen hat. »Die Regierung jedenfalls nicht.« Die habe alles verschlafen, sich nicht genügend Mühe gegeben. »Ich habe gehört, dass es auch für die Rettungsdienste möglich gewesen wäre, mehr Menschen zu retten. Als Mutter kann ich so etwas nicht verzeihen.«

Der Unmut über das Chaos der öffentlichen Dienste hat sich zu ungewohnt offener Kritik an der Regierung aufgestaut. Von mehreren Seiten kommen Rücktrittsforderungen an Präsidentin Park Geun-hye. Erst am Dienstag letzter Woche bat sie erstmals offiziell um Entschuldigung. Am selben Tag besuchte Park das Trauergeleit im Seouler Vorort Ansan, wo Woo Gyung-tae täglich vor dem Tor steht, um Autos durchzuwinken.

Nachdem Park einen Kranz niedergelegt und lange vor Fotos der gestorbenen Jugendlichen geschwiegen hatte, verließ sie die Halle. Kurz darauf ordneten Angehörige der Verstorbenen an, den Kranz sofort zu entfernen. »Die Entschuldigung der Präsidentin ist unangemessen«, hieß es. Schließlich habe Park sich nicht einmal persönlich verbeugt, wie es standesgemäß gewesen wäre, sondern bloß eine Stellungnahme schicken lassen. Ihr Sprecher Min Kyung-wook beteuerte, Park habe ihre Geste ehrlich gemeint. Nur goss ein Parteikollege noch Öl ins Feuer. Er sagte, im Moment sei nicht die Zeit für Entschuldigungen, sondern für Rettungen. Lee Song-tae, ein älterer Herr in blauer Regenjacke, sieht das genauso. Vor der Turnhalle in Jindo steht der Koordinator der Freiwilligenkräfte um neun Uhr morgens vor versammelter Truppe und erklärt: »Seid nicht stolz auf das, was ihr tut. Seid bescheiden. Es geht hier nicht um euch, sondern um die Familien. Ihre Zeit hier soll so aushaltbar wie möglich sein.« Die Freiwilligen haben verstanden. Dabei ist der Spruch aus Ansan tatsächlich auch in Jindo noch zu hören: »Wir sind die besten Helfer der Welt.«

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