Süchtig nach dem Unerhörten

Roger Willemsen über Guantánamo, das Glück von Abbrüchen, die Geduld der Armen und eine leuchtende Orange im Regen

  • Lesedauer: 16 Min.
Derzeit reist Roger Willemsen durch Deutschland - mit seinem Band »Das Hohe Haus«, einem Tagebuch, gleichsam geschrieben auf der Besuchertribüne des Deutschen Bundestages in Berlin. Ein Porträt aus erhellender Nähe. Ein Gespräch.

nd: Roger Willemsen, ein Jahr Beobachtungen im Bundestag und dann eine beißend genaue, keinesfalls froh stimmende Bilanz als Buch - was enttäuschte so augenfällig?
Willemsen: Dort, wo ich die Politik unter ihren eigenen Bedingungen glaubte erleben zu können, war sie nur noch schemenhaft zu erkennen. Die Trennlinie zwischen der Rhetorik im Parlament und in einer Talkshow ist oft nicht mehr zu sehen.

Der Publizist Günter Gaus bekannte 2001 so grimmig wie traurig, er sei angesichts des Verkaufs der Politik ans Unterhaltungsfernsehen kein Demokrat mehr. Stehen auch Sie kurz vor diesem Abschied?
Nein. Wahrscheinlich bin ich zu romantisch verblasen, ich hänge wider alle Erfahrung noch immer an der Idee der Mündigkeit.

Was steht ihr im Wege?
Die Demokratie benötigt eine höhere Anstrengung, was ihren Informationswillen angeht. Der Bürger kann in den Abläufen des politischen Geschäfts nicht mehr seine eigenen Interessen identifizieren. Politik ist um die Belange des Ichs herum entkernt. Denn was wird mir angeboten? Wozu Börsennachrichten, in direkter Nähe zur »Tagesschau«? Sie sind ein Beispiel dafür, wie das Fernsehen den Markt verinnerlicht. Sie simulieren Relevanz, verhindern aber nur, wie vieles andere der Nachrichtengebung auch, dass ich mich selber erkenne und daraus mögliche Direktiven für mein Handeln ableiten kann.

»Das Hohe Haus« ist ein Bestseller. Sie genießen den Erfolg?
Erfolg denkt gern quantitativ. Die wahre Heimat des Autors ist eine gewisse Hermetik, nicht das Gedröhn draußen. Ich lernte Leute kennen, die schwärmten von meiner Gesprächssendung im Fernsehen, jeden Freitag nähmen sie sich dafür den Abend frei. Feige Höflichkeit hielt mich zurück, ihnen die Wahrheit zu sagen: dass die Sendung lange schon eingestellt war. Nein, nein, damit mir ein Lob etwas bedeuten kann, muss ich das Gesicht dahinter kennen, statt der Maske davor.

Auch bei Kritik?
Ja, wobei es Erfahrungen gibt, bei denen mich eine Dimension des Aburteils erschreckt, die weit über das betreffende Buch hinausgeht.

Zum Beispiel?
Ich dachte, wir seien uns in dieser Gesellschaft in der Guantánamo-Frage einig. Als ich das infame Zeug einiger leitenden Medien gegen mein Buch las …

… »Hier spricht Guantánamo«, Interviews, Erfahrungsprotokolle aus dem Lager …

… ja, da wusste ich, wie böse herzlos der proamerikanische Opportunismus alle Schwellen überspringen kann, die das humane Denken und Fühlen setzt - und hier sprach ja nicht ich, hier sprachen Gefangene.

Was treibt Sie hinaus, bis an »Die Enden der Welt«, wie eines Ihrer Bücher heißt?
Neugier, Wunsch nach Hervorbringung. Ich möchte die Welt nach Menschen und Geschehnissen absuchen, die mich fesseln. Entziffern will ich, Milieus studieren, Leute beobachten.

Faustischer Drang? Um zu ergründen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«
Nein, solch anmaßendes Pathos der Erkenntnisanstrengung wäre mir zu ehrgeizig. Was mich drängt, ist eine andere Hoffnung, ein anderer Genuss: dass es erweiterbare Spielräume gibt für das, was das selbstverantwortete Denken stiften kann; mich locken andere Stufen der Sensibilität, der sinnlichen Intelligenz, der Wahrnehmung von gemischten Gefühlen.

Eine Erlebenssucht?
Warum nicht? Ich bin süchtig nach dem Unerhörten, nach dem noch nicht Gesehenen. Wir sind im Kontext des Universums sehr Geringe, aber das Fassungsvermögen unserer Sinne ist ein wunderbarer Reichtum, den es zu mehren gilt.

Ihre Begeisterung hat, im positiven Sinne, etwas Bedrängendes.
Für mich auch. Alles, was die Expansionsbewegungen meiner Wissbegier einschränkt, ist mein Feind. Ich möchte produktiv gemacht werden durch Welt-Anschauung - und ich wünsche mir, diesen empfangenen Impuls weitergeben zu können. Also, zum Beispiel: Ich schreibe so ein autobiografisches Buch wie »Momentum« und wünsche mir, daraus möge der Impuls auf Leser überspringen, sich das eigene Leben neu zu vergegenwärtigen und die Existenz-Momente aufzuspüren, die dieses Leben wirklich bezeichnen. Das ist mein Traum vom Autor und seinen Möglichkeiten.

Heiner Müller träumte von einer Bibliothek aller Lebensgeschichten aller Menschen der Welt.
Toll! Und ich würde sie alle lesen wollen.

Sie waren auf dem Weg zum renommierten Universitätslehrer. Warum der frühe Abbruch dieser Laufbahn?
Ein paar glücklichste Momente meines Lebens haben mit Abbrüchen zu tun. Ich hatte an der Universität plötzlich Hunger auf eine andere Form von intellektuellem Leben. Ich wollte andere Schreibformen suchen, wollte sinnlicher, auch unseriöser schreiben dürfen. Einen Roman plante ich, bekam vom Verleger einen Vorschuss, den gab ich in Asien aus, der Roman aber blieb ungeschrieben - vorsichtshalber kehrte ich erst mal nicht nach Deutschland zurück, schlug mich in London durch. Kürzlich staunte ich, wie oft in Tagebüchern von damals der Satz vorkommt: Kann nicht ins Kino, habe kein Geld.

Impuls, Botschaft, Stimmerhebung des einen als Ermutigung für viele: Das erinnert an Schriftsteller, die man getrost als moralische Institution bezeichnen kann - sie durften es sein, bis das feuilletonistische Richtertum zuschlug. Beispiel Günter Grass. Oder Walter Jens. Entblätterung, Stochern, Respektlosigkeit.
Unter dem Aspekt solcher Angriffe entwickle ich sofort eine reflexartige Sympathie. Gerade für Grass und die Unverhältnismäßigkeit der erlebten Attacken auf ihn. Was mich empört: Die sogenannte Auseinandersetzung mit moralischen Instanzen suggeriert, die Angreifer selber hingen existenziell an der Idee einer besseren, kritisch mündigen Gesellschaft - sie hängen aber nur an der faden Idee der Zerstörung, nehmen das Pantheon für Schießübungen her. Dieser pseudomoralische Rigorismus ist ein Vernichtungsmittel.

Wie der handelsübliche Zynismus in politischen Dingen?
Natürlich. Ich saß in einer Sendung bei »phoenix« einem eiskalten Befürworter des Afghanistan-Krieges gegenüber, der hielt ein »Newsweek«-Cover hoch: das Bild einer Frau, deren Gesicht von Säure verätzt war, daneben die Schlagzeile »Sollen wir abziehen?« Mich erschlug diese Infamie eines Schreibtisch-Landsers - als sei Soldateska einzig nur am Hindukusch, um leidende Kinder und Frauen zu retten. Wenn ich Frauen in Afghanistan von dem Foto berichtete, antwortete mir bitteres Hohnlachen, und auch der betreffende Journalist hat natürlich nie einen Finger für sie gerührt.

Sie haben als Weitgereister in schmutzige, nur traurig beleuchtete Ecken unseres Planeten geschaut. Armut, Krieg, Flucht, Vertreibung, Ausbeutung. Was hielt sie ab, selber zynisch zu werden?
Zynismus ist ein Angebot des Gemüts und des Geistes, sich Dinge leichter zu machen. Es ist eine Schutzreaktion, wenn die Zustände unerträglich werden. Er findet keinen Standpunkt gegen die Zerstörung. Ich bin dazu nicht fähig, ohne Verdienst, ich kann nicht anders. Zu sehr werde ich angesteckt von dem, was um mich herum geschieht. Mir sollen die Dinge egal sein? Sie sind mir nicht egal.

Menschenliebe?
Und Lebenslust, trotz allem. Oscar Wilde sagte, die Leute kennen den Preis von allem und den Wert von nichts. Nehmen Sie die Geschichte um Gurlitt: Es geht dauernd um die sorgenvolle Frage, wem die Bilder gehören, welche Summen zu handeln seien. Aber das Schönste ist doch, dass unverhofft so viele Kunstwerke ans Licht kamen, und eigentlich offeriert jeder Tag einen Satz, der dich hebt, eine Farbe, die dich erhellt, einen Blick, der dich wirklich meint. Manchmal schaue ich in Gesichter und beginne mir sofort auszumalen: Wie sieht die Wohnung dieses Menschen aus, welches Buch liegt auf seinem Tisch, was wird er am Abend tun? Solche Akte des Weiterspinnens muss ich nicht künstlich produzieren, sie entsprechen meinem Lebensgefühl und lassen für Zynismus keinen Raum. Er wäre Verrat.

Verrat woran genau?
Als Kind ging ich mit meiner Mutter in Bonn erstmalig an einem Bettler vorüber, brach in Tränen aus und war offenbar nicht mehr zu beruhigen angesichts all der genuinen Fragen nach dem Warum. Diese quälten mich weit über den Moment des Erlebten hinaus. Manchmal muss man sich auf einen solchen kindlichen Schrecken zurückbringen, um die Groteske der Ungleichheit als solche zu denken. Ich weiß nicht, wem genau ich dafür danken müsste - aber irgendwie ist mir diese Naivität offenbar nicht ganz verloren gegangen.

Erziehung?
Ich möchte das moralisch indifferent beschreiben, es ist Teil meines biologischen Systems.

Sie sprachen von Armut. Ein Thema auch Ihres Buches »Das Hohe Haus«.
Das hat mich am Bundestag so überrascht und verstört: wie Politiker diesen Sündenfall unserer Wohlstandswelt manchmal mit Eiseskälte negieren. Wir besingen lauthals die grenzenlose Freiheit, kompensieren aber den Fall von geografischen Grenzen draußen offenbar durch soziale Ausgrenzung im Inneren.

Kompensation warum?
Wegen dieser fatalen Form von Identitätsbildung: Man erkennt sich am deutlichsten in denen, die man abstößt und ausstößt.

Geben Sie selber Münzen, wenn Menschen um Almosen bitten?
Ich kann ja spontan nicht anders helfen, also gebe ich. Das Schlimmste, so hat mir ein Obdachloser einmal gesagt, sei aber die Einsamkeit, das Gefühl der Ausgestoßenheit, weil die Passanten durch einen hindurchsähen, kein Wort hätten.

Brecht lässt seine Heilige Johanna der Schlachthöfe sagen, man solle nicht gut gewesen sein, wenn man die Welt verlässt, sondern eine gute Welt verlassen.
Sich politisch oder sonst wie für bessere soziale Verhältnisse einzusetzen, steht doch nicht im Widerspruch zur sogenannten Wohltätigkeit. Sie ist manchmal ein letztes Rückzugsgebiet des aufklärerischen Denkens - insofern, als man wenigstens sagen kann: Sie wirkt sofort. Allerdings habe ich einem Bettler kürzlich auf dem Bahnhof erklärt, er müsse seine Geschichte verbessern. Dauernd zu klagen, es fehlten noch ein paar Cents für eine Fahrkarte - das ist abgestanden und nicht mehr brauchbar. Erst war er betroffen, dann dankbar.

Haben Sie Angst vor den Armen dieser Welt? Sie könnten eine Internationale des Hasses gründen, die eines Tages gegen uns anrückt.
Wenn es eine Kraft gibt, die mir ungläubiges Staunen und einige Bewunderung abringt, dann ist es die Geduld der Armen. Eine geradezu gesegnete Geduld …

… zugleich doch eine verfluchte Geduld.
Exakt! Es ist schon extrem, wie sehr man sich arrangiert mit dieser Welt - die ein immer größeres Gefälle zwischen Arm und Reich produziert.

Um noch mal Heiner Müller zu zitieren: Er nannte den Aufstand die wahre Heimat der Sklaven.
Es flackern zwar hier und da Feuer des Zorns auf, ich habe diese aufzuckende Aggressivität der Empörten an verschiedenen Orten der Welt erlebt, in den ärmsten Ländern etwa Afrikas - aber die meisten Menschen im Elend organisieren sich nicht wirklich. Ich fürchte, Heiner Müllers Definition ist derzeit nur eine Behauptung.

Findet wahre Weltgestaltung vor allem im Kopf statt?
Wahre Weltveränderung beginnt jedenfalls im kritischen Blick auf das eigene Selbst. Wer das verinnerlicht und also die Schwierigkeit begreift, selbst ein Beispiel zu sein - der tut sich schwerer mit den tönenden Forderungen an andere. In der griechischen Ästhetik gibt es die Aemulatio, die permanente Überbietung des Selbst, die Selbststeigerung als Eigenschaft des phantasiebegabten Bewusstseins. Zugleich ist es ein Produktionsprinzip: aus Bestehendem etwas Neues zu schaffen. Im Verhältnis zum eigenen Leben heißt das immer auch: sich selbst zu überschreiten in dem, was man gerade ist oder denkt. Man muss sich zurücklassen können, sich als revidierbare Masse erkennen, sich in Frage stellen lassen.

Es ist fatal, Vorstellungen von der Welt zu legitimieren, indem man Wirklichkeit nur immer ausblendet?
Ja. Ich fände es zum Beispiel reizvoll, in einem Fernsehgespräch zu sitzen und gegenüber einem Streitpartner zu bekennen: Sie überzeugen mich gerade - ich kann nunmehr also nicht mehr für das stehen, wofür ich eingeladen wurde. Man stelle sich solche Hochkultur der Öffnungsbereitschaft im Parlament vor.

Paradox gefragt: Wirkliche Aufklärung macht nicht sicherer, sondern steigert die Verwirrung?
Sie macht feinfühlig für die Komplexität der Dinge. Was aber bitteschön nichts zu tun hat mit der Pflege jener Lieblingstugend des Spießers, der Toleranz - die er gern als eine Gleichwertigkeit der politischen Auffassungen interpretiert, die jede persönliche Verantwortung ausschließt.

Ist die Katastrophe der wahre Lehrmeister der Menschheit?
Ich fürchte ja. Mit Ihrer Frage zielen Sie gewiss auf die Besinnungskräfte in uns. Aber es gibt eine weit schlimmere Lektion: In Katastrophen stellen Menschen leider auch fest, wozu sie im Bösen fähig sind. Katastrophen beschleunigen oft genug - schon, wo sie sich ankündigen - die Aufkündigung von Solidarität und Gemeinsinn.

Empfinden Sie sich als einen Linken?
Ja.

Aber Kommunist sind Sie nie geworden.
Ich habe beizeiten Leute kennengelernt, die auf anstrengende Art indoktrinierten. Da war es bisweilen schon ein Gebot der Intelligenz, Abstand zu halten. Meine Politisierung verdanke ich eher der Frankfurter Schule von Adorno und Horkheimer. Im übrigen war ich wohl auch nicht asketisch genug für kommunistische Gruppen.

Worin besteht die große Kunst, noch immer an den Kommunismus zu glauben?
Wahrscheinlich darin, sich einen Traum zu bewahren, ohne an dessen Machtlosigkeit zu verzweifeln. Einen Traum zu feiern, ohne erneut all jene zu Feinden zu erklären, die lieber ohne Propheten eines Revolutionierungsprogramms auskommen möchten. Revolutionärer Zorn hat die Welt auf Dauer wohl nie besser gemacht, aber man muss trotz allem doch sagen: Er hat der Welt immerhin die Lüge verweigert, als gut dazustehen.

Nahe dem Traum ist das Wort von der Utopie.
Die Utopie als etwas Verfasstes, als gesellschaftliches Programm, wie wir im Idealfall sein sollten oder könnten, das kann ich mir nicht mehr vorstellen. Andererseits fällt es mir schwer, ohne Konjunktiv zu denken. Deshalb kann ich auch nicht aufhören, die Welt auf ihre Veränderbarkeit hin zu befragen. Ich nehme Verhältnisse wahr und fabuliere: Wäre es doch … In Möglichkeiten zu denken, ist eine Voraussetzung für kritisches Denken.

Gibt es ein Sinn-Bild, ein Erlebnis, das Ihre Kindheit erklärt?
Eine Erklärung ist es nicht, aber eine Erzählung, in der eine Ursituation dieser Kindheit aufleuchtet. Mein Vater war Maler, wir hatten wenig Geld, waren drei Kinder und lebten im angemieteten Häuschen mit Blick auf ein Schloss - des Fürsten Salm Reifferscheidt. In Alfter bei Bonn. Um uns herum ein letztes Atmen der höfischen Welt. Im Schloss verkehrte Adenauer, Thomas Mann war mal Gast, der Fürst besaß eine Kutsche, ihm gehörte das Mineralwasser des Dorfes, er hatte, wie im Märchen, keinen Stammhalter, aber sieben Töchter. In den großen Küchen wurden Butterkügelchen gerollt, wir selber waren »Rama«-Esser und blickten aus der Froschperspektive aufs Schloss. Eines Tages standen mein älterer Bruder, der Vater und ich im Torbogen unseres Häuschen, und mein Vater fragte: Wer traut sich, durch den strömenden Regen hinüber zum Schloss zu rennen. Ich lief los, der Bruder war stehen geblieben, es war ein wunderbar warmer Mairegen.

Glücksgefühle?
Ja, unbeschreiblich. Und als ich die andere Seite erreicht hatte, öffnete sich das Fenster im Schloss, die Fürstin reckte ihren speckigen Arm heraus und reichte mir eine Orange. Der Regen war das Medium der Euphorie, der Entgrenzung, der atemlos machenden Frische, dazu der Siegeslohn der leuchtenden Frucht. Ich habe dieses Bild nie vergessen.

Im Sinne des Satzes von Lermontow, den Sie Ihrem Buch »Momentum« voranstellten: »Und die goldene Wolke blieb über Nacht.«
Ja! Ist das nicht schön? Die erwähnte Episode ist ein Beleg dafür, dass in bestimmten Momenten des Lebens all das zusammenkommen kann, was dich auflöst in einem wunderbaren Ganzen. Eine Epiphanie!

Herr Willemsen, Ihr Feld ist die Literatur. Die Hand-aufs-Herz-Frage: Goethe oder Schiller?
Eindeutig Schiller. Bei Goethe stehen die Dinge des Leben, und sei es auf geniale Weise, zu weise nebeneinander. Ein Kaufhaus für alles. Ein Werk, das mit jeder Situation zurecht kommt. Dieser Dichter macht zu oft den Eindruck, nicht erschütterbar zu sein. Er besingt den edlen Menschen und setzt sich für ein Todesurteil gegen eine arme Kindsmörderin ein. Er besingt das Klassenlose und blickt verächtlich auf fordernde Bauern. Schiller dagegen flammt, er ist ein Mann der Stringenz und Konsequenz. Meine Entzündbarkeit für Dichtung ist eher mit ihm verbunden, und noch stärker mit Hölderlin und Kleist und Büchner. Schiller ist belangbar, es gibt bei ihm angreifbare Handlungsmaximen, nicht nur immer dieses Sowohl-als-auch. Arg vergröbert und ungerecht gesagt: Das so schlau unverfängliche Merkeldeutsch hat von Goethe gelernt.

Was kennzeichnet das Merkeldeutsch?
Jetzt bitte Goethe vergessen, denn die Assoziation ist wirklich unanständig. Merkel ist glanzlos. Sie generiert Zustimmung, indem sie die Verödungszonen ausdehnt, eine Rhetorik der Unterforderung anstimmt, in der alle großen Themen unaussprechlich werden.

In welcher Zeit hätten Sie gern gelebt?
Sicher wäre ich mit staunenden Augen durch die Renaissance gegangen. Überhaupt wäre ich gern durch viele Zeiten gewandert - allerdings mit dem dringenden Wunsch, keine Zahnschmerzen zu haben. Also lieber nicht. Zumal ich gestehen muss, zu einer der glücklichsten Generationen zu gehören: Ich habe keinen Krieg am eigenen Leib erfahren müssen, ich wurde in einer Zeit des Aufbaus groß, und damals, als diese Gesellschaft noch unfest war, hatte sie Charme und Aura.

Wie beschreiben Sie Ihr Verhältnis zur Religion?
Zunächst war es wohl eine Art Ersatz für den Vater, der oft nicht anwesend war.

Kirche und Religion gewissermaßen als Prinzip der Autorität.
Ja, der prästabilen Harmonie. Später dann der natürliche Reflex der Rebellion, also Kirchenaustritt und die große Liebe zum Ketzerischen, zu allem Heidnischen und Materialistischen - das war die Etablierung des Verstandes als dem wirklich tragfähigen Prinzip der Autorität. Aber gegenüber Menschen, die das Religiöse aufrichtig empfinden können, bin ich inzwischen milde. Wir sollten mit der christlichen Ethik behutsam umgehen, sie gehört zum Kostbarsten, gibt sie dem Caritativen doch Verbindlichkeit. Da erlischt mein Ketzertum.

Sie glauben an keinen Gott?
Nein. Aber manchmal wünsche ich mir, ich könnte es. Grundsätzlich halte ich es eher mit dem Skeptizismus eines Diderot, wo ein Hauptmann sagt: Mein Gott, wenn es einen gibt, habe Mitleid mit meiner Seele, wenn ich eine habe.

Wie denken Sie über den Tod?
Als Kind war ich hysterisch heiter und zugleich tief melancholisch. Lange hat mich der Selbstmord als philosophisches Thema umgetrieben. Der Tod selbst hat, denke ich, kein Charisma - das Sterben ist es, das mich ängstigt. Die Materialermüdungen am eigenen Körper steigern allmählich die Furcht, sie könnten sich auch geistig niederschlagen.

Der Tod: kein Charisma - klingt beinahe gelassen. Wie passt das zu Ihrer Neugier?
Ich weiß, ich bin in einem Fortsetzungsroman, stehe irgendwann vor der Zeile »Fortsetzung folgt«, werde jedoch vom weiteren Geschehen ausgeschlossen sein. Aber wenn ich zum Beispiel an meinen Freund Dieter Hildebrandt denke: Wir sind jetzt schon ärmer um alle seine ungeborenen Pointen - aber gleichzeitig denke ich an das, was ihm erspart bleibt. Ja, das schafft Gelassenheit. Insofern ist der Tod kein Feind: Ich muss nicht unbedingt alles bis zur bitteren Neige erfahren. In einer kommerziellen Welt heißt auch die Nachwelt Dieter Bohlen, und eine höhere Gerechtigkeit wird es nicht geben.

Interview: Hans-Dieter Schütt

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