Von Obninsk bis Olkiluoto

Im Juni 1954 begann die zivile Nutzung der Atomenergie - aktuell gibt es viele Bauvorhaben, aber auch Stilllegungspläne

  • Wilfried Fischer
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Geschichte der zivilen Nutzung der Atomkraft begann im Kalten Krieg. Die Tschernobyl-Katastrophe beendete ihren schnellen Aufstieg.

Das weltweit erste zivil genutzte Kernkraftwerk wurde am 1. Juni 1954 nahe der Wissenschaftsstadt Obninsk 100 Kilometer südwestlich von Moskau in Betrieb genommen. Der Reaktorblock AM-1 hatte eine elektrische Bruttoleistung von 6 Megawatt (MW), die Nettoleistung (abzüglich des Eigenverbrauchs) betrug 5 MW, die thermische Leistung 30 MW. Es handelte sich um einen Prototyp, der Graphit und Wasser als Moderator verwendete und wassergekühlt war. Am 26. Juni 1954 wurde der Reaktorblock erstmals mit dem Stromnetz synchronisiert. Einen Tag später begann die Stromproduktion.

Gut zwei Jahre darauf zog der Westen nach. Im Oktober 1956 eröffnete die britische Queen auf dem Gelände des Nuklearkomplexes Sellafield mit Calder Hall das erste Atomkraftwerk, das für die kommerzielle Stromproduktion eingesetzt wurde. Es hatte eine Bruttoleistung von 60 MW. Der Glaube an die Beherrschbarkeit der Atomkraft war damals in Ost und West noch unerschüttert.

Energie durch Kernspaltung
In einem Atomkraftwerk wird Strom mittels Dampfturbinen erzeugt, die Stromgeneratoren antreiben. Anders als im Kohlekraftwerk wird zur Wärmeerzeugung kein fossiler Brennstoff verbrannt. Physikalische Grundlage ist die Spaltung schwerer Atomkerne des Isotops Uran-235. Die Bindungsenergie pro Nukleon, also die notwendige Energie zum Lösen der Bindung, ist in den Spaltprodukten größer als zuvor. Die Differenz wird bei der Kernspaltung freigesetzt, wodurch Wärme entsteht, mit der Wasser erhitzt wird. Der größte Teil der Wärme wird per Wasserdampf an die Umwelt abgegeben. Daher ist die thermische Leistung eines AKW um ein Mehrfaches größer als die Leistung der Generatoren. Da das AKW selbst viel Strom – etwa für die Kühlung des Kernmaterials – benötigt, sind elek-trische Brutto- und Nettoleistung zu unterscheiden. Letztere gibt an, was im Stromnetz maximal ankommt. nd

In den 1970er und 1980er Jahren nahm die zivile Kernenergienutzung einen rapiden Aufschwung. Betrug die weltweite Stromerzeugungskapazität aus Kernenergie 1970 noch rund 16 Gigawatt (1 GW = 1000 MW), so stieg diese bis 1990 auf 328 GW. Damals wurden 423 Reaktoren zur Stromproduktion genutzt.

In Deutschland hatten die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg die Kernforschung zunächst verboten. Sie wurde aber nach Aufhebung des entsprechenden Kontrollratsgesetzes in den 1950er Jahren möglich. Das erste westdeutsche AKW war 1962 der 15-MW-Versuchsreaktor Kahl - fünf Jahre später folgte mit Gundremmingen A (Bayern) das erste kommerzielle Atomkraftwerk.

Die DDR schloss 1955 mit der Sowjetunion einen Vertrag über Hilfeleistungen bei »der Nutzung der Atomenergie für die Bedürfnisse der Volkswirtschaft«. In Rossendorf bei Dresden entstand das Zentralinstitut für Kernforschung, wo 1957 ein Forschungsreaktor in Betrieb genommen wurde. Im selben Jahr schlossen Moskau und Ostberlin einen Vertrag über den Bau eines KKW in Rheinsberg nördlich von Berlin. Es wurde am 9. Mai 1966 eingeweiht. In den 1970er Jahren folgten nahe Greifswald vier Reaktoren. Ab 1980, so die Prognose, sollte jährlich ein weiteres Kernkraftwerk in Betrieb gehen, wozu es aber nicht kam. Nach der Wende wurden alle KKW bis Juni 1990 vom Netz genommen. Sie genügten den Sicherheitsstandards nicht. Der Rückbau ist weitgehend abgeschlossen.

Auch weltweit verlief die Entwicklung deutlich langsamer als zuvor, was vor allem an einem Ereignis lag: Im April 1986 ereignete sich im sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl nahe der ukrainischen Stadt Prypjat ein Super-GAU - der Reaktor des Blocks 4 explodierte. Ein Brand des als Moderator enthaltenen Graphits beförderte mit den Rauchgasen große Mengen radioaktiver Nuklide in die Atmosphäre. Der radioaktive Niederschlag ging über großen Teilen Westeuropas nieder (in Deutschland am stärksten betroffen war Südbayern). Eine politische Folge dieser Havarie war der weltweite Stopp des Ausbaus der Kernenergie. 2008 war das erste Jahr seit den 1960ern, in dem weltweit kein neues Kernkraftwerk in Betrieb genommen wurde. In Deutschland setzte die Regierung im Jahr 2000 einen an Reststrommengen geknüpften Atomausstieg durch. In Europa wurde erst 2004 mit dem Europäischen Druckwasserreaktor (EPR) des französischen Konzerns AREVA im finnischen Olkiluoto erneut ein Kernkraftwerk in Auftrag gegeben.

Die nächste Nuklearkatastrophe fand im März 2011 statt, als es im japanischen AKW Fukushima zu Kernschmelzen in drei Reaktoren kam. Daraufhin kündigten viele Länder die Überprüfung ihrer Atomprogramme an, einige wie die Schweiz oder Italien beschlossen den Ausstieg. In Deutschland wurden einige Monate nach der Fukushima-Katastrophe acht AKW stillgelegt. Neun laufen weiter, das letzte soll Ende 2022 abgeschaltet werden.

Nach Angaben der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) erzeugten zuletzt 435 Reaktoren mit einer installierten elektrischen Gesamtnettoleistung von 372 Gigawatt in 31 Ländern Strom. Ihr Anteil an der Stromerzeugung liegt bei elf Prozent. Die USA, Frankreich und Russland liegen vorne. Weltweit befinden sich laut der World Nuclear Association zwar 65 Reaktorblöcke im Bau, davon allein 29 in China. Bei vielen ist die Fertigstellung jedoch fraglich. So befinden sich elf der 65 Blöcke bereits seit den 1980er Jahren im Bau. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass ständig ältere Anlagen aus unterschiedlichen Gründen stillgelegt werden: bis dato mindestens 155 Reaktorblöcke mit einer installierten Gesamtleistung von 37,8 GW. Für den ersten Reaktor in Obninsk war am 29. April 2002 Schluss.

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