Echoraum des anderen Denkens

»Ich heiße Anna« in den Rathenau-Hallen

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.

Denken braucht Struktur, und wenn bei Demenz-Erkrankungen die Struktur brüchig wird, passiert das Gleiche mit dem Denken. Auf sehr subtile Art führt der Schauspieler Holger Foest in der als »performatives Abendbrot« klassifizierten Produktion »Ich heiße Anna« in den Rathenau-Hallen in Schöneweide in das Thema der bröckelnden Struktur ein. Er erklärt Zeitstrukturen anhand des Zifferblatts einer Uhr. Volle Stunden gilt es da abzulesen und halbe Stunden. Das klappt. Doch wenn es um die Viertelstunden geht, etwa um die Bezeichnung viertel acht oder auch drei viertel neun, dann streikt selbst das gesunde Hirn des westlich der Mauer geborenen Schauspielers und kann die »östliche« Zeitangabe nicht in seine Struktur übersetzen.

Eine Ahnung überkommt das handverlesene Publikum - maximal sieben Personen sind pro Aufführung zugelassen - , vor welchen Problemen erkrankte Geister stehen. Es wird aber auch für kurze Momente sichtbar, welche Freiräume sich womöglich - meist unerkannt von Angehörigen oder Pflegern - auftun, wenn das Hirn anders verarbeitet.

Regisseurin Marie Rodewald erzählt im Nachgespräch, das integral zur Vorstellung gehört, von einem Musiker, der in gesundem Zustand niemals zu improvisieren vermochte und sich immer strikt an die Noten hielt. Als er an Demenz erkrankte und sich eine Musiktherapeutin seiner annahm, gelang plötzlich, was zuvor unerreichbar schien.

Allerdings: In den Stadien, die folgen, und die Foest mit kleinen szenischen Strichen skizziert, nimmt von außen betrachtet der Verfall zu; etwaige Freiheitsgrade verschwinden.

»Ich heiße Anna« ist ein ungewöhnlicher Theaterabend. Nicht, weil er in einer Wohnung stattfindet und die Gäste zum Essen einlädt. Solch ein Format ist viel erprobt. Aber Marie Rodewald und Holger Foest - und die mit ihnen zusammenarbeitenden Klangkünstlerin Ksenija Ladic - bewegen sich geschickt an der Grenze zwischen privater Begegnung und geführtem Spiel. Es ist weder ganz das eine noch ganz das andere. In dieser Zwischenwelt werden leichthin, fast schon nebenbei, szenische Schnipsel produziert, deren Botschaft zunächst bei denen ankommt, die selbst Erfahrungen mit erkrankten Personen in ihrem Umfeld haben.

Bei denen, die nicht derart vorgeprägt sind, dauert es länger, manchmal bis zum Betreten der Straßenbahn, die wegführt aus der Wilhelminenhofstraße, manchmal noch länger, bis diese hingeworfenen Bilder zu sprechen beginnen.

Aber dass sie es tun, früher oder später - davon darf man ausgehen.

Nach »Ein Fest ohne Anna«, einer Familientafel für etwa zwei Dutzend Personen, ist »Ich heiße Anna« die Fortsetzung der theatralen Arbeit am Thema Demenz und Alzheimer. Eine Doppelarbeit mit Nachhall.

23.-27.6., 18 und 21 Uhr. 27.6. zusätzlich 15 Uhr, Rathenau-Hallen, Wilhelminenhofstr. 83-85, Wohnung 74, Karten und Infos (030)98362837, www.rodewaldfoest.com

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