Über Geschichte stolpern

In Friedrichshagen erinnern Jugendliche mit einem Spaziergang an die jüdische Geschichte des Stadtteils

  • Steffi Bey
  • Lesedauer: 3 Min.
Jugendliche führten am Sonnabend zu jüdischen Erinnerungsorten in Friedrichshagen und erzählen damit die dunkle Gesichte eines heute so idyllischen Stadtteils.

Die Zahlen lassen die Teilnehmer gleich zu Beginn der eineinhalbstündigen Führung durch den Köpenicker Ortsteil schaudern: »Insgesamt 50 Juden wurden allein aus Friedrichshagen deportiert und in den Tod getrieben«, sagt der 16-jährige Alex. Er hat noch weitere Fakten zusammengetragen und liest sie von seinem Blatt Papier ab. »Lebten 1933 unter den insgesamt etwa 88 500 Köpenickern 800 Juden, waren es 1945 nur noch 108. Sie wurden ermordet, verschleppt oder wanderten aus«, erklärt der Jugendliche und blickt dabei in die Gesichter einiger Spaziergänger.

Rund 40 Interessierte haben sich am Sonnabendvormittag vor der Christopheruskirche an der Bölschestraße versammelt: Ältere Damen und Herren aber auch jüngere Familien mit Kindern. »Ich beschäftige mich schon länger mit jüdischer Geschichte und hoffe, ein paar neue Dinge zu erfahren«, sagt Hilde Schreiner. Acht Orte werden insgesamt aufgesucht. Es sind unter anderem Gebäude in der Bölschestraße, in denen das jüdische Ehepaar Irmgard und Paul Holzmann mit ihrem Sohn Wolfgang wohnte. »Sie hatten eine Schneiderwerkstatt, wurden aber ab 1933 von der NS-Ideologie als fremdrassistisch gedemütigt«, tragen die Jugendlichen vor. Irmgard und ihr Sohn Wolfgang kamen in Auschwitz ums Leben. Paul wurde in Arbeitslager geschickt.

»Für uns ist schwer nachvollziehbar, mit welcher Geschwindigkeit sich nach dem Machtantritt der Nazis auch Friedrichshagener bereit fanden, gegen ihre Nachbarn, Kollegen, Arbeitgeber, Vereins- und Sportfreunde vorzugehen«, sagt Alex.

Während der vierwöchigen Arbeit an dem Projekt »Jugendliche adoptieren Stolpersteine«, das der Verein Deutsche Gesellschaft in Friedrichs-hagen gemeinsam mit der Jungen Gemeinde durchführt, hat er aber auch von Menschen erfahren, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um den Opfern zu helfen. Dazu gehören beispielsweise das Friedrichshagener Ehepaar Ilse und Richard Grubitz. Sie versteckten ein jüdisches Ehepaar und eine ältere jüdische Dame auf einem Gehöft südlich von Königs Wusterhausen.

Für die 15-jährige Henrike war die Arbeit an dem Projekt besonders spannend. Sie hatte den Auftrag, über Julius Fromm zu recherchieren, der 1914 das erste Markenkondom auf den Markt gebracht hatte. Der jüdische Unternehmer eröffnete 1922 seine erste Fabrik in der Rahnsdorfer Straße 53. Sechs Jahre später wurde außerdem in einem größeren Werk an der Friedrichshagener Straße produziert. »Fromm schuf damit auch moderne Arbeitsbedingungen mit sozialer Verantwortung«, berichtet Henrike. Ab 1934 versuchten ihm die Nazis Unregelmäßigkeiten nachzuweisen. Er schickte seine Familie nach London und wollte selbst die Naziherrschaft aussitzen. »1936 sah er ein, dass er sich in Lebensgefahr befindet, wollte sein Unternehmen Fabrik Fromms Act verkaufen, durfte aber den Käufer nicht frei wählen«, zitiert Henrike. Zu den aufmerksamen Zuhörern gehört auch ihre Oma Margit Meyer. Deren Mutter arbeitete als junge Frau in der Kondomfabrik. »Sie erzählte mir später, dass sie Augenzeugin der Fabrikaktion war und sie davon furchtbar betroffen war.«

Der Stolperstein-Spaziergang führt des Weiteren an der Bruno-Wille-Straße 108 vorbei, in dem die jüdische Lehrerein Alice Leske mit ihrem Vater wohnte. Fanny und Clara berichten, dass die »Schüler ab 1935 sehr traurig waren, weil Frau Leske plötzlich nicht mehr erschien«. Stattdessen ist ein Nazi eingesetzt worden, der die Bestrafung mit Rohrstock wieder einführte und auch Mädchen sexuell belästigt haben soll. »Ich verstehe nicht, dass es nur darum ging, die Juden wegzubekommen. Wer ihre Stelle einnahm, war völlig egal, Hauptsache es war ein Nazi«, sagt die 14-jährige Fanny. Noch in diesem Jahr bringen die Jugendlichen mit der Deutschen Gesellschaft einen Flyer zum Projekt heraus.

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