Nein, meint Lejla Hasic, auffällig mehr Leute als sonst seien hier in diesem Jahr bisher nicht zu sehen gewesen. Nur eben so die üblichen Touristen, von denen ab und an auch jemand bei ihr zu Kaffee und Kuchen hereinkommt. Denn Frau Hasic ist Verkäuferin in einer Bäckerei. Allerdings in einer Bäckerei an historisch exponierter Stelle. Nämlich genau an der Straßenecke des berühmt-berüchtigten Attentats von Sarajevo.
Angesichts des 100. Jahrestages hätte sie schon mit etwas mehr Betrieb und auch mit etwas mehr Umsatz gerechnet, sagt sie. Ähnlich ist es etwas weiter in der kleinen Verkaufsgalerie zu hören. »Natürlich wären noch mehr Touristen als Laufkundschaft nicht schlecht«, findet dort die Malerin Hiba Mustafic. Wobei sie sich wünscht, dass »die dann aber Sarajevo aus anderen Gründen besuchen als wegen all dieser Attentats- und Kriegsgeschichten«.
Mit dieser Hoffnung bewegt sie sich übrigens ganz auf der Linie des Bürgermeisters der Stadt. »Frieden, Solidarität und Hoffnung für die Jugend« wiederholt Ivo Komsic unermüdlich als zentrale Botschaft des 100. Jahrestages. »Wir müssen weg von unserem internationalen Kriegsimage und wollen positive und zukunftsfähige Signale in die Welt senden.« Dementsprechend ist der 28. Juni 2014 in Sarajevo gestrickt. Höhepunkt soll am Abend ein Konzert der Wiener Philharmoniker im jüngst nach langen Renovierungsjahren wiedereröffneten Rathaus werden. Sinnigerweise steht auch Haydns »Kaiserquartett« auf dem Programm. Und der protokollarische erste Gast ist ebenfalls Österreicher. Valentin Inzko amtiert in Bosnien-Herzegowina zur Zeit als Hoher Repräsentant der UNO, der seit dem Dayton-Abkommen 1995 in allen staatlichen Belangen das letzte Wort hat.
»Wir brauchen keinen neuerlichen Streit um die Vergangenheit, die Geschichte gehört ins Museum«, betont Bürgermeister Komsic. Doch dass das nicht ganz so einfach ist, ist dem Philosophieprofessor, der 1985 zur »Dialektik der Diskontinuität im ›Kapital‹ von Karl Marx« habilitierte, natürlich klar. Gerade wenn es um die Person des Attentäters Gavrilo Princip geht.
Höchste Verehrung hatte dieser nach dem Ersten Weltkrieg im Königreich Jugoslawien genossen, später auch im sozialistischen Jugoslawien. In Serbien, einem der jugoslawischen Nachfolgestaaten, ist das immer noch so. Die Gavrilo-Princip-Straße nahe des Belgrader Hauptbahnhofs ist nur eines von vielen auch öffentlichen Zeichen dafür. In Bosnien-Herzegowina, bekanntlich auch einer der jugoslawischen Nachfolgestaaten, rückt zumindest die regierungsamtliche Lesart den Attentäter indes auf die Stufe der Al-Quaida-Terroristen. In der Hauptstadt Sarajevo war deshalb die ihm 1919 gewidmete Brücke am Attentatsort 1992 wieder in Latinska-Brücke umbenannt worden.
Wie verworren die Deutungslinien in der Stadt selbst verlaufen, zeigt die Meinung von Olivera Vukasovic, die an einem Gymnasium Geschichte unterrichtet. »Die Habsburger hatten Bosnien 1908 militärisch besetzt, und Princip war ein jugoslawischer Freiheitskämpfer«, sagt sie. »Wilhelm Tell hat einst, als Attentäter in einer hohlen Gasse lauernd, auch einen Habsburger Landvogt erschossen. Er gilt als Schweizer Nationalheld und ist literarisches Sinnbild eines Tyrannenmörders«. Dies teilt die Lehrerin auch ihren Schülern in Ost-Sarajevo mit. Und das gehört zur Republika Srpska, einem der beiden bosnisch-herzegowinischen Teilstaaten. Der weitaus größere Westteil Sarajevos, dort wo heute auch die Wiener Philharmoniker spielen werden, liegt hingegen im Teilstaat namens Federacija Bosne i Hercegovine.
Selbst Christopher Clark, der in seinem Buch »Die Schlafwandler« Serbien quasi zu einem Hauptkriegstreiber stilisiert, sagte unlängst in einem Rundfunkinterview: »Der Terrorist des einen ist immer der Freiheitskämpfer des anderen.« Bei einer solchen Gemengelage aus Ideologie und Politik haben es historische Fakten schwer. So etwa auch die Tatsache, dass der Tod des Thronfolgers einigen im damaligen Wiener Ränkespiel nicht ungelegen kam. Karl Kraus hatte das bereits Mitte Juli 1914 in seinem »Fackel«-Aufsatz »Franz Ferdinand und die Talente« glänzend herausgearbeitet. Diese »Affäre sieht bloß an der Oberfläche serbisch aus«, schrieb er. Der Kronprinz sei der »Erzfeind« aller konservativen Krieger im österreichischen Machtgefüge gewesen. Eindringlich wie überzeugend analysierte Kraus, dass es am Wiener Hofe genug Leute gab, denen der Erzherzog im Wege stand. Sein »Atem war eine Gefahr für ihr Lebenslicht«. Dazu passt eine Notiz des k.u.k.-Außenministers Leopold Graf Berchtold, dass nach dem Attentat »einige geradezu erleichtert« schienen.
Wer sich allerdings gemäß der guten alten Kriminalistenfrage »Cui bono?« nicht nur der serbischen Geheimorganisation »Schwarze Hand« nähert, sondern vielleicht auch dem Evidenzbüro, also dem militärischen Nachrichtendienst der k.u.k-Monarchie, wird sofort als Verschwörungstheoretiker behämt. So auch unlängst wieder von einem deutschen Nachrichtenmagazin. Aber vielleicht fehlt heute einfach ein Reporter wie Egon Erwin Kisch, der im Mai 1913 die Oberst-Redl-Spionageaffäre aufgerollt hat. Redl war immerhin Vizechef eben dieses Evidenzbüros, stand aber zugleich auch im Sold des Auslands. Und nicht nur des russischen.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/937331.kuchen-und-kaiserquartett.html