nd-aktuell.de / 11.07.2014 / Kultur / Seite 16

Immer nur im Mittelmaß geklemmt

Christian Wulff hat sich zwischen »Ganz oben, ganz unten« völlig richtig verortet

Gabriele Oertel

Er hat sich wieder einmal überschätzt. Wie schon als Bundespräsident. Christian Wulff hat allen einen einschenken wollen, die ihm so zugesetzt hatten, dass er nach nur 598 Tagen das Schloss Bellevue verlassen musste. Und hat mit seinem forschen Zitat: »Und ich wäre auch heute der Richtige im Amt« bei der Vorstellung seines Buches doch wieder nur all jene bestätigt, die ihm schon lange einen gewaltigen Realitätsverlust attestierten. Selbst die, die das Halali, zu dem im Hause Springer gegen Wulff geblasen worden war, und das auch in anderen Medienhäusern erwachte journalistische Jagdfieber samt dem juristischen Eifer in der Hannoveraner Staatsanwaltschaft nie angemessen gefunden haben, mussten mit den Köpfen schütteln.

Denn »der Richtige im Amt« war der einstige niedersächsische Ministerpräsident wahrscheinlich nicht einmal zu jener Zeit, als er sich noch nicht wegen eines Hauskredits, gesponserten Urlaubsreisen, nicht selbst bezahlten Hotelübernachtungen und Drohsprüchen auf die Mailbox eines übermächtigen Chefredakteurs in der Öffentlichkeit wieder und wieder verteidigen musste. Mit Sicherheit war er erst recht nicht der Richtige als Krisenmanager in eigener Sache.

Außer dem einen Satz zum Islam, den er zu Deutschland gehörig verortete, ist inhaltlich nicht viel geblieben von Christian Wulffs Regentschaft. Der Satz war mutig, aber dennoch ein bisschen zu wenig - selbst für die kürzeste Amtszeit, die ein Bundespräsident je in Deutschland hingelegt hat. Ach, hätte er sich doch schon während seiner Amtszeit mit dem problematischen Verhältnis von Medien und Justiz beschäftigt, die Bedrohung der Gewaltenteilung, die er heute beklagt, schon thematisiert, als er noch die Titelseiten als glücksstrahlender Präsident füllte. Allein, es ist ihm erst aufgefallen, als er am eigenen Leib erfuhr, was andere vor ihm erlebten.

Dass er seine Rolle in seinem Buch »Ganz oben, ganz unten« freilich viel prägender einschätzt, war zu erwarten. Auch dass er Medien und Justiz scharf kritisiert, sich selbst wahlweise als Erfolgstyp bewundert oder als Verfolgter bemitleidet. Selbst dass Wulff nur hin und wieder auf eigene Lässlichkeiten eingeht, überrascht kaum - während der gesamten Affäre um seine wenig ausgeprägte Distanz zu Förderung und Begünstigung hat der Niedersachse sichtlich nie ganz verstanden, was die Leute von ihm wollen.

Ja, bei der Kritik am Schröder-Nachfolger in der niedersächsischen Staatskanzlei - Gerhard Glogowski - wegen einer von einer Firma bezahlten Hochzeit hätte er vielleicht doch nicht so kräftig zulangen sollen. Und auch bei Johannes Raus von der WestLB finanzierten Feier zum 65. Geburtstag würde er sich heute mehr zurückhalten, kann man lesen. Im Lichte der Vorwürfe, mit denen Wulff später konfrontiert wurde, erscheinen selbst diese Eingeständnisse des Ex-CDU-Politikers mit der Ex-Konkurrenz von der SPD nur selbstgefällig - weil ähnlich.

Erstaunlich aber ist, dass Wulff seit seinem Rücktritt im Februar 2012 bis heute offenbar nie wirklich hinterfragt hat, welchen eklatanten Fehleinschätzungen er höchstselbst (und im Bunde mit der ihm inzwischen abhanden gekommenen jungen Gattin) erlegen war, welche Selbstüberhöhung und Machtgewissheit ihn heimgesucht haben müssen, dass der angeblich Richtige früher oder später im falschen Film landen musste. Denn schon im ersten Teil des Buches kann man, wenn auch wiederum mit viel Larmoyanz gewürzt, erfahren, dass es eigentlich mit seiner Nominierung für das höchste Staatsamt öffentlich nachlesbar genügend Anzeichen gab, wie sehr die Medien dem künftigen Präsidentenpaar bei seinem Abenteuerausflug von Großburgwedel in die große weite Welt der Reichen und Schönen auf die Finger schauen würden.

Nicht unbedingt nur um seiner selbst Willen - womöglich wegen der Herkunft aus einfachem Hause oder der Arroganz von hauptstädtischen Auskennern gegenüber der Provinz -, sondern vor allem wegen seiner Inthronisation von Merkels Gnaden. Denn auch wenn sich in diesem Lande (noch) keiner in den als einflussreich geltenden einschlägigen Verlagshäusern traut, die Kanzlerin offen zu kritisieren - die Art, wie sie ihre Parteifreunde ent- oder versorgt, im Falle Wulffs sogar beides geschickt verbindend, haben alle Journalisten auf dem Schirm.

Aber womöglich hatte das der erst im dritten Wahlgang gewählte Christian Wulff eben nicht. Der muss, an der Endstation Sehnsucht gelandet, auch verdrängt haben, was er nun noch einmal niedergeschrieben hat: den heftigen Argwohn von Angela Merkel gegenüber dem sogenannten Andenpakt. Jener Kreis einstiger Funktionäre der Jungen Union, die sich auf einer Südamerikareise ewige wechselseitige Unterstützung geschworen hatten und nach und nach von der Kanzlerin und CDU-Vorsitzenden aus deren Dunstkreis verdrängt wurden: Franz-Josef Jung, Günther Oettinger, Roland Koch, Peter Müller, Matthias Wissmann und eben Wulff. Der rühmt sich naiv noch heute, dass diese Verbindung in der CDU, deren Mitglieder sich noch immer zweimal im Jahr treffen, lange Zeit als »Talentschuppen« gegolten habe. Und berichtet treuherzig, wie er bei den Andenfreunden für Merkel und bei Merkel für die Andenfreunde geworben habe. Vermutlich hat er seine Rolle auf der einen wie der anderen Seite wiederum überschätzt - jedenfalls ist nicht überliefert, dass ihm von der Kanzlerin oder von den alten Kumpels in der bittersten Zeit seines Lebens Beistand zuteil wurde.

Ja, Christian Wulff war für fast 600 Tage ganz oben. Dass er sich trotz einträglichem lebenslangen Salär danach ganz unten fühlte, sei ihm angesichts der Fallhöhe verziehen. Das eigentlich Tragische ist, dass der Mann immer nur irgendwie zwischen oben und unten geklemmt hat: im Mittelmaß. Und dass er das bis heute nicht verstanden hat.

Christian Wulff: Ganz oben, ganz unten. C.H. Beck, München 2014. 256 S., geb-. 19,95 €.