Das richtige Maß in allen Dingen

Zum 100. Todestag des Dichters, Schriftstellers, Journalisten und Herausgebers Julius Rodenberg

  • Hannah Lotte Lund
  • Lesedauer: 4 Min.

Wer ist das? Ein deutscher Dichter des 19. Jahrhunderts, der in seiner Jugend patriotische Gedichte schrieb, dann nach London ging und dort das Feuilleton für sich entdeckte, zahlreiche Wanderbücher mit feinem Gespür für Geschichte schrieb, sich in Berlin niederließ, als Redakteur und Theaterkritiker arbeitete, sich schließlich als Autor von Gesellschaftsromanen einen Namen machte und einer der eloquentesten Briefschreiber seiner Zeit war? Auf den ersten Blick würde man Theodor Fontane vermuten, doch der war mit diesem Steckbrief einer seiner wenigen Herausgeber nicht gemeint, sondern ein Zeitgenosse und Kollege, zu Lebzeiten wesentlich erfolgreicher als Fontane selbst und heute nahezu vergessen.

Julius Rodenberg war etablierter Dichter und Schriftsteller, Miterfinder des Stadtfeuilletons, Mitbegründer der Goethe-Gesellschaft sowie Gründer und 40 Jahre lang Herausgeber der bedeutendsten deutschen Kulturzeitschrift, der »Deutschen Rundschau«. Viele heute bekanntere Autoren, wie eben Fontane oder Storm, verdanken der »Rundschau« wichtige Erstveröffentlichungen. Dass Rodenberg, eine Instanz im deutschen Literaturbetrieb im 19. Jahrhundert, heute unbekannt ist, liegt paradoxerweise an seinem Erfolg - beziehungsweise daran, wie nachlebende Generationen und Regime »deutsche Kultur« definierten. Die NS-Kulturpolitik sorgte so gründlich für die Auslöschung seines Namens, dass er erst über zwei Generationen später, im Zuge der Neuentdeckung einer »deutsch-jüdischen« Literatur wieder genannt wird. Ob ihm dieses Etikett gerecht wird und inwiefern es dem Verständnis seiner Zeit entspricht, wäre dabei noch sehr zu fragen.

Geboren 1831 als Sohn eines jüdischen Elternpaares in Rodenberg, hatte Julius Levy seinen Geburtsnamen abgelegt und mit staatlicher Erlaubnis den seiner von ihm geliebten Heimatstadt angenommen. Er blieb zeitlebens ungetauft und wird mit dem Glaubensbekenntnis zitiert: »Ich liebe eigentlich nur das Menschentum.« Rodenberg heiratete die katholische Tochter eines Triester Kaufmanns und etablierte sich mit ihr ab 1859 fest in Berlin als Dichter, Schriftsteller, Redakteur und schließlich Herausgeber des »Nationaljournals«.

»Es ist das bescheidene Amt eines Chronisten, das ich beanspruche.« Der dies schrieb, war gar nicht bescheiden (noch war es sein Amt), sondern er machte sich zum bedeutendsten Chronisten deutscher Kulturgeschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem dadurch, dass er die besten und gelehrtesten Federn dazu anhielt, diese Chronik zu schreiben. Kurz nach der Formierung des Kaiserreichs gründete er nach dem Vorbild großer europäischer Revuen eine Monatsschrift, die die »Elite der deutschen schönen Literatur mit der Elite der deutschen Wissenschaft zu gemeinsamer Arbeit« für einen Überblick über die »Culturbestrebungen der Nation« zusammenbrachte. Die neuesten Novellen der Ebner-Eschenbach waren hier ebenso nachzulesen wie die Berliner Theatersaison und »der gegenwärtige Stand der Polarforschung«.

Über 40 Jahre gelang es Rodenberg, die Ende des 19. Jahrhunderts auseinanderdriftenden Natur- und Geisteswissenschaften, die Poesie, bevorzugt nach Schillerschen Idealen, und die Politik in seiner Zeitschrift unter einem Dach zu vereinigen. Bei allem ausgeprägten Kulturpatriotismus legte er dabei Wert auf internationalen Austausch, durch Abdruck ausländischer Autoren und im Vertrieb: Die Zeitschrift hatte in ihrer Hochphase 10 000 Abonnementen, davon knapp über 1000 in Berlin und fast genauso viele in New York und Paris.

Seine Leser und das kulturpolitische Establishment seiner Zeit dankten es ihm. Julius Rodenberg ist einer der wenigen deutschen Dichter und Künstler, die noch zu Lebzeiten »eine eigene Straße« geschenkt bekamen. Die Rodenbergstraße in Berlin-Prenzlauer Berg, in einem Neubaugebiet der Gründerzeit entstanden, wurde zu seinem 70. Geburtstag nach ihm benannt. Rodenberg, der gern aus den Toren des alten Berlins ins neue hineinwanderte, ist diese Wahl vielleicht passend erschienen. Er war einer der ersten Flaneure der werdenden Metropole: »Einer meiner liebsten Sonntagsspaziergänge ist vor dem Landsberger Tor: Ich weiß wohl, daß das nicht die fashionabelste Gegend ist; und ich würde wahrscheinlich in einige Verlegenheit geraten, wenn mir dort plötzlich ein Bekannter begegnete und mich fragen wollte Wie kommen Sie hierher?... Doch das ist es eben, was mich dorthin führt, die vollkommene Sicherheit, einem Bekannten auf jener Seite der Stadt nicht zu begegnen.«

Rodenberg, der im Stadtteil Tiergarten wohnte und sich durchaus zu dem ihm benachbarten Kulturbürgertum rechnete, porträtierte in seinen »Bildern aus dem Berliner Leben« das ganze Berlin mit viel Sinn für die Lebensumstände und Wünsche auch der »anderen Seite« der Stadt. Die DDR-Forschung, die Rodenberg in den 1980er Jahren wiederzuentdecken begann, attestiert ihm »ein soziales Gewissen«, wenn er sich auch eher von der Natur trösten lassen wollte, als zur Änderung aufforderte. Rodenberg malte und suchte, wie er selber sagte, das »Bild eines mäßigen bürgerlichen Glücks«. Im Unterschied zu vielen seiner Zeitgenossen legte er aber auf das Maßhalten wert, in Versen wie in der Politik.

Stilistisch blieb er einem poetischen Realismus verhaftet. Ob seine Verse »die reinen Frauen stehn im Leben/ wie Rosen in dem dunklen Laub« heute noch lesbar oder Ausdruck eines hoffentlich überkommenen Ideals sind, ist debattierbar. Sicher dürfte sein, dass mit Julius Rodenberg ein Chronist dieser Stadt und des Kaiserreichs noch wiederzuentdecken ist. Heinz Knobloch, einer, der wie er selbst die Stadt zu lesen verstand und vieles ihrer Geschichte dem Vergessen entriss, schrieb: »In Rodenbergs Spaziergängen lebt ein verschwundenes Berlin.«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal