nd-aktuell.de / 15.07.2014 / Politik / Seite 10

Ein anderer Fußball ist möglich

Die Weltmeisterschaft der Straßenkicker in São Paulo setzte alternative Akzente

Nils Brock, São Paulo
Parallel zum großen Rasenspektakel fand in São Paulo die Weltmeisterschaft im Straßenfußball statt. Statt Gewinnen um jeden Preis geht es beim street soccer um Spaß und Kennenlernen.

Als in Davao auf den Philippinen die Einladung zu einem internationalen Fußballturnier ins Haus flatterte, herrschte heller Aufruhr. »Wir? Nach Brasilien? Zum Fußballspielen? Die Skepsis war groß«, erinnert sich Erlebnispädagoge Marcelo Trautmann, der als Fachkraft von Brot für die Welt im Tambayan-Zentrum für Kinderrechte arbeitet. »Viele der Jugendlichen hier haben nicht einmal eine Geburtsurkunde, allein der bürokratische Aufwand erschien riesig.« Und dann, als man bei Tambayan die Reisepläne gerade ins Rollen gebracht hatte, zerstörte drei Monate vor Abflug ein Großbrand die Hütten von über 1000 Familien. Auch die jugendlichen Kicker waren obdachlos geworden. Doch anders als Trautmann es erwartet hätte, reagierten die Eltern entschlossen. »Sie sagten mir, jetzt erst recht, wir können ihnen diese Freude nicht auch noch nehmen.« Am Ende waren es über 300 Jugendliche aus 21 Ländern die Anfang des Monats nach São Paulo kamen, um an der dritten Weltmeisterschaft im Straßenfußball teilzunehmen.

Ein grauer, nasskalter Morgen hängt über dem Platz Largo da Batata, vielleicht auch deshalb rennen die jungen Leute beim Aufwärmen heute noch schneller. »Das hier ist die Essenz des Fußballs, das Spiel auf der Straße«, reibt sich ein Zuschauer die Hände. »Ein Ball, ein improvisiertes Feld, ein paar Freunde, so fängt es immer an.« Der Mann ist nicht zufällig hier. Fabián Ferraro hat in Argentinien viele Jahre professionell Fußball gespielt und gilt als der Erfinder von fútbol callejero (Straßenfußball). Erfinder? »Naja, wir brauchten damals vor 20 Jahren einfach eine Methode, um die verfeindeten Jugendbanden eines Armenviertels in Buenos Aires zusammenzubringen und so irgendwie die alltägliche Gewalt zu stoppen«, erinnert er sich und strahlt. »Fußball, das Spiel fasziniert uns eben ausnahmslos alle.«

Um die Jugendlichen beim gemeinsamen Kick ins Gespräch zu bringen, modifizierte Ferrero die klassischen Regeln. Statt elf, brav nach Geschlecht aufgeteilten Spielern oder Spielerinnen pro Team, zwei Halbzeiten und einem Schiedsrichter, gibt es beim Straßenfußball nur Mediatoren oder Mediatorinnen, drei Spielabschnitte und zwei Mixed-Teams mit jeweils zehn Füßen. Im ersten Spielabschnitt werden zunächst alle weiteren Regeln vereinbart, dann wird 20 Minuten gespielt, anschließend gemeinsam das Spiel ausgewertet und Fairness-Punkte vergeben. »Für mich war das alles neu«, sagt die 19-jährige Annalou Arrogante aus dem Team der Philippinen. »Manchmal ist es auch schwierig, sich auszudrücken bei den Diskussionen, nicht immer wird man verstanden.«

Auch dieses anfängliche Nichtverstandenwerden gehöre zu einem Straßenfußball-Turnier, meint Mediator Hunter. Der Texaner gibt nach den Spielen sein Bestes, um alle in die Diskussionsrunden einzubeziehen, übersetzt hin und her, immer darum bemüht, dem Tempo zu folgen. »Also das Team aus Brasilien will euch einen Fair-Play-Punkt abziehen, weil ihr eure Mitspielerin kaum eingesetzt und wenig angespielt habt, versteht ihr?«, erklärt er gerade dem Team aus Sierra Leone. Doch so leicht geben sich die afrikanischen Dribbler in der dritten Spielzeit nicht geschlagen. »Wir wollten unsere Mitspielerin nur schonen, sie ist angeschlagen«, verteidigen sie sich. Doch diese Ausrede haben sie schon bei vorherigen Partien bemüht. Es bleibt dabei, ein Punkt weniger für Sierra Leone.

Die Methode Straßenfußball, so wie sie von Ferraros Stiftung »Fußball für Entwicklung« erdacht wurde, ist vor allem in Lateinamerika bekannt und wird in unterschiedlichen Kontexten eingesetzt: als Freizeitprogramm in paraguayischen Kinderdörfern, um die Nachbarschaften in Brasiliens Favelas zu organisieren, für die Motivation jugendlicher Arbeitsloser in Barranquilla (Kolumbien). Oder in El Alto (Bolivien), »um den Sport zu dekolonialisieren und die Wettbewerbsorientierung aufzubrechen«, erklärt Team-Koordinator El Archie gegenüber »nd«. Dann wühlt er gemeinsam mit seinem Team weiter in einem Berg von Plastiktüten nach den verschwundenen Wechseltrikots. Kollege Trautmann hat derweil ganz andere Sorgen und hilft verletzten Spielerinnen, vom Platz zu humpeln. Drei unglückliche Ausfälle in nur fünf Minuten. Draußen werden sie von Spielerinnen Südafrikas, dem gegnerischen Team, betreut. In den vergangenen Tagen hat sich eine große Freundschaft entwickelt, mit Händen, Füßen und ein paar Brocken Englisch.

In Kolumbien steht Konzept Straßenfußball auch als Projekt für Toleranz und Versöhnung. Besonderer Anlass war der Mord an dem kolumbianischen Nationalspieler Andrés Escobar, der 1994 nach einem Eigentor bei der Weltmeisterschaft erschossen wurde.

Das ist er, der andere Fußball von dem Ferraro träumt, kompromisslos solidarisch. Mit der Mit der internationalen Föderation der Fußballverbände (FIFA), 2010 noch strategische Partnerin bei der Ausrichtung des Events in Südafrika, »werden wir deshalb nie wieder zusammenarbeiten«, sagt er. »Alles, was die FIFA im sozialen Bereich tut, wird durch die Marketing-Brille betrachtet, damit ihre Sponsoren und ihr Oberchef Joseph Blatter zufrieden sind. Wir dagegen wollen, dass die Jugendlichen in einer gerechten Gesellschaft aufwachsen.« Dass die FIFA nach dem Bruch ihr eigenes Straßenfußballturnier »Football for Hope« in Rio de Janeiro organisiert, ärgert ihn, aber es haben sich neue Partner gefunden. Die Stadtverwaltung von São Paulo stellt zum Beispiel die Unterkünfte. Kulturprojekte organisieren das Rahmenprogramm mit Graffiti, Hip Hop und Samba.

Am letzten Tag des Turniers zeigt sich doch noch die Sonne über den Häuserschluchten São Paulos. In die Runde der letzten vier sind am Ende nur jene Teams vorgedrungen, die das Event sportlich sehr ernst genommen haben. Kolumbianische Frisör- und Tätowierlehrlinge schlagen am Ende eine multikulturelle Fußballschule aus Israel im Endspiel. Die Philippinen dürfen sich derweil über eine blütenweiße Fair-Play-Weste freuen.