Taschentuch-Fühlung

»Gerede. Elf Ansprachen« - Christoph Ransmayrs liebenswerte Beschwörungen des Lebens

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Reden sind Pflichtpapiere der Langeweile geworden. Als maßgebliche Äußerungsform der Politik wurde die Ästhetik des öffentlichen Vortrags ins Abgeschliffne, Konturenarme gedrängt. Fertigteilmontage. Nähme man die politische Rede als Wegstrecke, ergäben sich als Eindruck nicht wechselreiche Landschaften, sondern nur betonierte Einbahnstraßen, reichhaltig versehen mit Leitplanken und Gebotsschildern für korrekte Satzfolgen. Zum Glück reden auch Schriftsteller, und die Vergabe von Preisen hat den anregenden Nebeneffekt, dass sich die Geehrten mit Dankesworten öffentlich kund zu tun haben. Selbstironisch nennt der Romancier Christoph Ransmayr seine Reden »Gerede«. Elf davon versammelt dieser Band. Ansprachen. Für-Sprachen, in Richtung des geplagten und dennoch aufschauenden Menschen.

Besonders eindringlich beschwört de Weltreisende Ransmayr immer wieder den Weg durchs Gebirge, in kalte Unwegsamkeiten, den Schritt »aus dem Prunk des organischen Lebens in die Kargheit und Stille der Eisregion« - es ist für ihn stets der Weg durch die Welt, wie sie einst war und wie sie einst sein wird, »eine Welt ohne uns. Das Leben - ein erdgeschichtliches Zwischenspiel«. Dies gesagt ohne panische Sentimentalität, ohne jenen Zynismus, der mit der Gletscherkälte zu konkurrieren versucht. Auf Ransmayrs Atem des gesprochenen Wortes, das dennoch ein geschriebenes, ein genau bedachtes, farbiges Wort bleibt, fließen Beruhigung und Gelassenheit. Die Beruhigung sehr ernst, die Gelassenheit schön erhaben. Die Erfahrung der steinernen weißen Endlichkeit, in der Wahrnehmung vielleicht ähnlich den Ahnungen von der kosmosschwarzen Ewigkeit, führt uns der Poet zwar vor Augen als das große, erschreckend Ungerührte, das die Existenz jedes Menschen umschließt - aber vor der Kulisse, die dieser Existenz die Grundwahrheit der Nichtigkeit mitgibt, offenbart sich doch auch: dass »das menschliche Dasein so einzigartig und kostbar, so gefährdet und vielleicht sogar liebenswert erscheint« wie an keinem anderen Ort. Unsterblich sind wir nur als Kind, da wir die ganze Welt in der Hand unserer unschuldigen Unbeholfenheit haben - Ransmayr schreibt darüber in einer berührenden Rede über seine Mutter und den Zauber der Muttersprache, der sich im tiefen Teller Buchstabensuppe offenbart.

Er redet heiter ehrfurchtsvoll über Bertolt Brecht, »auch dieser Dichter war in seinen politischen Ratschlägen wohl nicht hellsichtiger als andere Wohlmeinende seiner Zeit«, aber da ist »eine unvergleichliche Poesie, die an Friedfertigkeit und Tiefe den Versen des mythenverzauberten Weisen Lao-tse nicht nachstanden«. Er redet inständig über Heinrich Böll, der »hat nicht bloß gefragt, sondern auch angeklagt und verurteilt«, und just am Beispiel dieses Schriftstellers, dessen Name »im saisonal angestimmten Gezeter um die jeweils neuesten literarischen Popstars kaum noch zu hören ist«, greift Ransmayr wieder zu seinem erhebend traurigen Grundgedanken der Vergänglichkeit: Bölls Erzählungen würden uns weiter begleiten, bis sie, wie die Werke »auch der größten Poeten, sei es der Antike oder eines künftig aufklaffenden Cyberspace, nach der Erfüllung oder dem Widerruf aller jemals mit ihnen verknüpften Hoffnungen in Frieden vergessen werden«.

Aufwühlend das Erinnern an Ernst Toller, den mutigen Räterepublikaner und Revolutionär - dessen Schicksal weitet sich, angesichts der immer tieferen Spaltung der Welt in Arm und Reich, zu des Schriftstellers böser Vision von Zeiten, »in denen die Wut hochschlagen wird an Trümmerbarrikaden und den Stacheldrahtverhauen eines Bürgerkriegs«. Allerdings mündet diese dunkel flammende Prophetie in noch größere Finsternis: Nach Blut und Tränen würde alles, wie es war. Denn »Lernfähigkeit, Anteilnahme am Leben des Nächsten, vielleicht sogar Zuneigung und Mitgefühl sind im besten Fall kostbare Vorzüge des einzelnen«; Gesellschaft, Staat und Stamm aber, das alles weigert sich, mehr zu sehen als den eigenen Vorteil, das ist »bestimmt von einer oft zur Verfassung erhobenen Mitleidlosigkeit«. Immerdar, so ist zu fürchten.

Die Texte eint ein besonderer Heimatverweis: Wir stammen aus dem Abenteuerroman - dessen Handlung uns freilich prüft, ob wir ihn, um des Lebens willen, auch heldenlos bestehen können. Jenseits von ideologischem, nationalistischem, chauvinistischem Ehrgeiz »oder anderen Schöpfungen der Dummheit«. Für Ransmayr gilt, womit sein Freund Reinhold Messner einst einen Skandal auslöste unter den Patrioten jedweder Gipfelstürmerei: Er folge keiner politischen Fahne, keinem programmatischen Banner, »meine Fahne ist mein Taschentuch«. Ein Rat für alle Aufstiege und Umstiege, und für Abstiege sowieso. Die Romantik einer Öffnung - dorthin, wo eine Weite wartet, die dich fesseln mag, aber nicht einschnürt in falsche Treueschwüre.

Warum schreibt einer? Ransmayrs fortwährender Denkanlass. Keiner kann weitergeben, was ihm zugestoßen ist unter den obwaltenden Bedingungen der Abhängigkeit, der Ohnmacht. Das wäre meist die Wiederholung von etwas Unerträglichem. Wir müssen doch aber antworten auf das, was uns zustieß. Sonst erwürgt uns das Unerträgliche. So entstand das Erzählen. Aus dem Lagerfeuer wurden Verlage, aus dem Seufzen vorm Sonnenuntergang das Kino. Natürlich weiß Ransmayr, dass es einen Unterschied zwischen dem Wort »Meer« und dem gibt, worauf einer segelt oder in dem er ertrinkt, er weiß, »dass ein Wort zwar vieles, sehr vieles tragen kann, aber kein Schiff«. Jedoch: Erzählen sichert Existenz, weil es die Differenz zwischen Sein und Schein so bewirtschaftet, dass man sie für fruchtbar halten könnte.

In der irischen Grafschaft Cork zum Beispiel, wo er lange Zeit wohnte, nahe der Klippen des Atlantik, erlebt Ransmayr einen Fischer, der den Unmut über seine wallfahrende Frau, die Sorgen um seine Tochter im Rollstuhl und den Ärger mit Tauwasserpfützen im Haus plötzlich nicht mehr im schimpfenden Redeschwall aus sich herausstößt - sondern singend. Und also plötzlich: das Drückende so befreiend, das Belästigende so beschwingt. Menschen identifizieren sich am liebsten mit Wesen, deutlich über ihren eigenen; sie selber zu sein ist unter ihrer Würde (ein Erziehungsziel jeder Gesellschaft!). Erzählen oder Singen im Pub aber ist der Gott, der aus uns selber kommt. Erzählen, Singen, Lesen, Musizieren, Reimen, Malen ist wie: barfuß in die große Weltzukunftskälte. Und es wird warm ums Herz, und es schlägt scheinbar nicht mehr in der Enge, die sein ewiger Raum bleibt.

Christoph Ransmayr: Gerede. Elf Ansprachen. S. Fischer Verlag. 98 S., geb., 12 €.

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